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Ich sah ihn aus einer Gruppe meiner Verwandten treten, die sich ein gutes Stück links von mir zusammengefunden hatte. Ich hatte mich schon gefragt, warum man dermaßen auf Abstand von mir ging, doch je mehr Besucher zu mir kamen, desto mehr ahnte ich die Lösung. Ich fragte mich, ob der Rückzug meinetwegen verzögert wurde. Die feuchten Böen des Unwetters wurden stärker. Merlin blickte mich im Näherkommen an, ohne einen besonderen Ausdruck auf dem Gesicht, das dem meinen so sehr ähnelte. Ich fragte mich, wie Dara zumute war, nachdem sich ihre Prophezeiung von der Vernichtung endlich zu bewahrheiten schien. Und ich fragte mich, wie sie wirklich zu dem Jungen stand. Ich stellte mir . . . viele Fragen.

Er beugte sich vor und ergriff meine Hand. »Vater . . .«

»Merlin.« Ich blickte ihn in die Augen. Ohne seine Hand loszulassen, stand ich auf.

»Bleib liegen.«

»Schon gut.« Ich drückte ihn an mich und ließ ihn wieder los. »Ich bin froh«, fuhr ich fort. »Trink mit mir.« Ich hielt ihm den Wein hin, zum Teil auch um zu verbergen, daß ich plötzlich keine Worte fand.

»Vielen Dank.«

Er nahm die Flasche, trank daraus und reichte sie zurück.

»Auf deine Gesundheit«, sagte ich und trank ebenfalls. »Tut mir leid, daß ich dir keinen Stuhl anbieten kann.«

Ich setzte mich wieder auf den Boden. Er folgte meinem Beispiel.

»Von den anderen scheint niemand genau zu wissen, was du eigentlich getan hast«, sagte er, »außer Fiona, die mir sagte, es sei sehr schwierig gewesen.«

»Ach was«, gab ich zurück. »Ich freue mich, daß ich es bis hierher geschafft habe, und wenn es wegen dieses Gespräches wäre. Erzähl mir von dir, mein Sohn. Was für ein Mensch bist du? Wie ist das Leben mit dir umgesprungen?«

Er wandte den Blick ab. »Ich habe noch nicht lang genug gelebt, um viel erreicht zu haben«, erwiderte er.

Es interessierte mich, ob er die Fähigkeiten eines Gestaltveränderers besaß, verzichtete aber zunächst darauf, ihn zu fragen. Es hatte keinen Sinn, nach Unterschieden zwischen uns zu forschen, nachdem ich ihn eben erst kennengelernt hatte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muß«, sagte ich, »in den Höfen aufzuwachsen.«

Zum erstenmal lächelte er.

»Und ich kann mir nicht vorstellen, wie es woanders hätte sein können«, entgegnete er. »Es war insofern anders, als ich viel mir selbst überlassen blieb. Man brachte mir die Dinge bei, die ein Edelmann wissen muß – Magie, Waffen, Gifte, Reiten und Tanzen. Man sagte mir, ich würde eines Tages in Amber herrschen. Aber das gilt nicht mehr, oder?«

»Für die absehbare Zukunft sieht es nicht danach aus«, sagte ich.

»Gut«, erwiderte er. »Dies war auch die einzige Sache, die ich nicht tun wollte.«

»Was möchtest du denn tun?«

»Ich möchte das Muster in Amber beschreiten, wie Mutter es getan hat, und Macht über die Schatten gewinnen, damit ich sie aufsuchen und dort unbekannte Dinge sehen und Abwechslung erleben kann. Meinst du, daß das möglich ist?«

Ich trank einen Schluck und reichte ihm den Wein.

»Durchaus möglich«, sagte ich, »daß Amber gar nicht mehr existiert. Es hängt alles davon ab, ob dein Großvater mit einem Versuch, den er begonnen hat, Erfolg gehabt hat – aber er kann uns nicht mehr sagen, was mit ihm in Amber geschah. Wie dem auch sei, auf jeden Fall gibt es ein Muster. Wenn wir dieses dämonische Unwetter überstehen, dann sollst du ein Muster finden, das verspreche ich dir. Ich werde dich unterweisen und dafür sorgen, daß du es durchschreitest.«

»Vielen Dank«, sagte er. »Erzählst du mir jetzt von deinem Ritt hierher?«

»Später«, sagte ich. »Was hat man dir von mir erzählt?«

Er wandte den Blick ab. »Man lehrte mich, viele Aspekte Ambers abzulehnen«, antwortete er schließlich und fuhr nach kurzem Zögern fort: »Vor dir als meinem Vater brachte man mir Respekt bei. Aber man ließ mich nicht darüber im unklaren, daß du der gegnerischen Seite angehörtest.« Wieder schwieg er. »Ich erinnere mich an den Patrouillenritt, als du an diesen Ort kamst und ich dich nach deinem Kampf gegen Kwan fand. Damals war ich schwankend in meinen Gefühlen. Du hattest gerade jemanden umgebracht, den ich kannte – und doch mußte ich deine Art bewundern. In deinem Gesicht sah ich das meine. Es war irgendwie seltsam. Ich wollte dich näher kennenlernen.«

Der Himmel hatte sich einmal völlig gedreht, bis nun die Dunkelheit über uns stand und die Farben über dem Chaos. Das gleichmäßige Vorrücken der blitzenden Sturmfront wurde durch diesen Effekt betont. Ich beugte mich vor und griff nach meinen Stiefeln und begann sie anzuziehen. Bald war es Zeit für unseren Rückzug. »Wir werden unser Gespräch in deiner Heimat fortsetzen müssen«, sagte ich. »Es ist Zeit, vor dem Unwetter zu fliehen.«

Er wandte sich um und betrachtete die Elemente, dann starrte er über den Abgrund.

»Ich kann einen Himmelssteg rufen, wenn du willst.«

»Eine der dahintreibenden Brücken, wie du sie benutzt hast, als wir uns zum erstenmal begegneten?«

»Ja«, antwortete er. »Sie sind sehr angenehm. Ich . . .«

Aus der Gruppe meiner Verwandten stieg ein Schrei auf. Als ich hinüberblickte, schien sich nichts Bedrohliches zu tun. Also stand ich auf und machte einige Schritte auf die anderen zu, während Merlin sich hinter mir aufrichtete.

Dann sah ich es. Eine weiße Gestalt, die aus dem Abgrund aufstieg, scheinbar in der freien Luft einhertrabend. Die Vorderhufe trafen auf den Felsrand, dann trat das Wesen vor und blieb stehen, uns alle betrachtend: unser Einhorn.

13

Einen Augenblick lang vergaß ich Schmerzen und Müdigkeit. Hoffnung flackerte in mir auf, während ich die zierliche weiße Gestalt betrachtete, die vor uns verharrte. Eine innere Stimme forderte mich auf vorzustürzen, doch eine stärkere Kraft hielt mich in Bann, zwang mich, reglos abzuwarten.

Wie lange wir so verhielten, vermochte ich nicht zu sagen. An den Hängen unter uns hatten sich die Soldaten auf das Abrücken vorbereitet. Die Gefangenen waren gefesselt, Pferde beladen, Kriegsgerät verstaut worden. Diese gewaltige Armee hatte in ihren Marschvorbereitungen plötzlich innegehalten. Es war keine natürliche Erscheinung, daß sie die Vorgänge bei unserer Gruppe so schnell bemerkt hatte – trotzdem war jeder Kopf, den ich sehen konnte, in unsere Richtung gedreht, das Einhorn am Abgrund betrachtend, dieses wunderschöne Geschöpf vor dem belebten Himmel.

Ich spürte plötzlich, daß der Wind hinter mir sich beruhigt hatte; der Donner allerdings grollte weiter und explodierte, und die Blitze ließen huschende Schatten vor mir erscheinen.

Ich dachte an die andere Gelegenheit, da ich das Einhorn zu Gesicht bekommen hatte – beim Einholen der Leiche des Schatten-Caines, an dem Tag, da ich meinen Kampf gegen Gérard verloren hatte. Ich dachte an die Geschichte, die ich gehört hatte . . . Konnte dieses Wesen uns wirklich helfen?

Das Einhorn trat einen Schritt vor und blieb stehen.

Es war so lieblich anzuschauen, daß allein der Anblick aufmunternd auf mich wirkte. Es löste allerdings auch eine schmerzhafte Überreaktion aus, war doch seine Schönheit von einer Art, die man nur in kleinen Dosen genießen sollte. Irgendwie spürte ich die unnatürliche Intelligenz in dem schneeweißen Kopf. Ich spürte den Drang, das Tier zu berühren, wußte aber, daß das nicht ging.

Das Geschöpf ließ seinen Blick über uns wandern. Seine Augen richteten sich auf mich, und ich hätte den Kopf abgewandt, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre. Ich schaffte es jedoch nicht, und so erwiderte ich den Blick, in dem ich ein Verständnis fand, welches das meine weit überstieg. Es war, als wisse das Einhorn alles über mich und habe in den letzten Sekunden auch all meine jüngsten Qualen erfaßt. Einen Augenblick lang glaubte ich in jenen Augen so etwas wie Mitleid und einen starken Ausdruck der Liebe zu sehen – und vielleicht auch einen Anflug von Humor.