Dann wandte sich der Kopf, und der Blickkontakt bestand nicht mehr. Unwillkürlich seufzte ich. Im gleichen Moment glaubte ich im Schein eines Blitzes etwas am Hals des Tiers schimmern zu sehen.
Das Einhorn trat noch einen Schritt vor und blickte nun zu der Gruppe der Verwandten hinüber, der ich mich hatte anschließen wollen. Es senkte den Kopf und stieß ein leises Wiehern aus. Dann stieß es mit dem rechten Vorderhuf auf den Boden.
Ich spürte Merlin neben mir. Ich dachte an Dinge, die ich verlieren würde, wenn hier alles ein Ende finden sollte.
Das Einhorn tänzelte mehrere Schritte weit. Es warf den Kopf hoch und senkte ihn wieder. Es sah so aus, als nähere es sich nur ungern einer so großen Gruppe von Menschen.
Beim nächsten Schritt sah ich es wieder funkeln – und mehr! Weiter unten am Hals schimmerte ein winziger roter Funke. Das weiße Geschöpf trug das Juwel des Geschicks. Wie es daran gekommen war, wußte ich nicht. Es war auch nicht wichtig. Wenn es uns den Stein ausliefern würde, mochte ich in der Lage sein, das Unwetter niederzukämpfen – oder uns zumindest an diesem Ort vor seinem vernichtenden Einfluß zu schützen.
Aber der eine lange Blick hatte genügt. Das Einhorn beachtete mich nicht mehr. Langsam, vorsichtig, als sei es bereit, beim geringsten Anlaß zu fliehen, näherte es sich der Stelle, an der Julian, Random, Bleys, Fiona, Llewella, Benedict und mehrere Edelleute standen.
Ich hätte erkennen müssen, was da vorging, doch ich ahnte nichts. Ich verfolgte lediglich die Bewegungen des schlanken Wesens, das vorsichtig die Gruppe umkreiste.
Wieder blieb es stehen und senkte den Kopf. Dann schüttelte es die Mähne und brach mit den Vorderhufen in die Knie. Plötzlich hing das Juwel des Geschicks an seinem verwundeten goldenen Horn. Die Spitze dieses Horns berührte beinahe die Person, vor der das Einhorn kniete.
Plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge das Gesicht meines Vaters am Himmel, und seine Worte hallten in meinem Kopf nach: »Mit meinem Tod wird sich für euch von neuem die Frage der Nachfolge erheben . . . Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als dies dem Horn des Einhorns zu überlassen.«
Ein Murmeln ging durch die Gruppe, weil allen wohl der gleiche Gedanke gekommen war. Das Einhorn ließ sich dadurch nicht stören, sondern verharrte als zarte weiße Statue und schien nicht einmal zu atmen.
Langsam hob Random die Hände und nahm das Juwel von dem goldenen Horn. Sein Flüstern drang bis zu mir.
»Danke«, sagte er.
Julian zog seine Klinge, kniete nieder und legte sie Random zu Füßen. Bleys, Benedict und Caine, Fiona und Llewella taten es ihm nach. Ich schloß mich ihnen an. Ebenso mein Sohn.
Random schwieg lange Zeit. Dann sagte er: »Ich nehme euren Treueschwur an. Jetzt steht auf, ihr alle!«
Als wir das taten, fuhr das Einhorn herum und galoppierte davon. Es galoppierte den Hang hinab und war nach wenigen Sekunden verschwunden.
»Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet«, sagte Random, der das Juwel in Augenhöhe vor sich hielt. »Corwin, kannst du dieses Ding nehmen und das Unwetter damit aufhalten?«
»Es gehört jetzt dir, und ich weiß nicht, wie weit sich die Erscheinung erstreckt. In meinem Zustand halte ich vielleicht nicht lange genug durch, um uns alle zu retten. Ich glaube, dies wird deine erste Tat als Herrscher sein müssen.«
»Dazu mußt du mir aber zeigen, wie man damit umgeht. Ich dachte, wir brauchten ein Muster, um die Einstimmung vorzunehmen.«
»Ich glaube nicht. Brand hat unterstellt, daß eine Person, die bereits auf das Juwel eingestimmt war, eine zweite einweisen kann. Ich habe seither darüber nachgedacht und glaube einen Weg zu wissen. Komm, wir suchen uns ein abgelegenes Plätzchen!«
»In Ordnung.«
Schon lag in seiner Stimme und Haltung ein neues Element. Die ihm so unverhofft übertragene Rolle schien sich sofort auszuwirken. Ich fragte mich, was für eine Art König er mit seiner Partnerin Vialle sein würde. Aber es war zuviel. Meine Gedanken waren irgendwie losgelöst. In letzter Zeit war einfach zuviel geschehen. Ich vermochte die jüngsten Ereignisse nicht mehr zu überschauen. Mein Bestreben ging dahin, mich an einen ruhigen Ort zu verkriechen und einmal rund um die Uhr zu schlafen. Statt dessen folgte ich Random an eine Stelle, wo noch ein kleines Lagerfeuer glomm.
Er stocherte in der Asche herum und warf einige Holzstücke hinein. Dann setzte er sich daran und nickte mir zu. Ich nahm neben ihm Platz.
»Diese Königswürde«, begann er. »Was soll ich tun, Corwin? Ich bin völlig unvorbereitet.«
»Tun? Du wirst dich wahrscheinlich recht gut schlagen«, erwiderte ich.
»Meinst du, es gibt viele Ressentiments?«
»Wenn es sie gibt, so sind sie nicht an die Oberfläche gekommen«, antwortete ich. »Du bist eine gute Wahl, Random. In letzter Zeit ist soviel geschehen . . . Vater hat uns im Grunde gut beschützt, vielleicht mehr, als für uns gut war. Der Thron ist bestimmt keine leichte Aufgabe. Du mußt dich auf eine schwere Zeit gefaßt machen. Und das haben die anderen meiner Meinung nach erkannt.«
»Und du?«
»Ich strebte nur danach, weil auch Eric es tat. Damals war mir das nicht klar, aber es stimmt. Es war der Siegespreis in einem Spiel, das wir die Jahre über gespielt haben. Eigentlich das Ende einer Vendetta. Und ich hätte ihn dafür umgebracht. Heute bin ich froh, daß er einen anderen Tod gefunden hat. Wir waren uns ähnlicher, als wir verschieden waren, er und ich. Auch das erkannte ich erst viel später. Nach seinem Tod jedoch stieß ich immer wieder auf Gründe, die dagegen sprachen, den Thron zu übernehmen. Endlich ging mir auf, daß ich das in Wirklichkeit auch gar nicht wollte. Nein. Du sollst die Macht haben. Herrsche gut, Bruder! Ich bin sicher, daß dir das gelingt.«
»Wenn Amber noch existiert«, sagte er nach kurzem Schweigen, »will ich es versuchen. Komm, erledigen wir die Sache mit dem Juwel. Das Unwetter rückt unangenehm nahe.«
Ich nickte und nahm ihm den Stein aus den Fingern. Ich hielt das Juwel an der Kette in die Höhe, so daß sich das Feuer dahinter befand. Das Licht schimmerte hindurch, das Innere schien völlig klar zu sein.
»Beug dich vor und blicke mit mir in das Juwel!« sagte ich.
Er kam der Aufforderung nach, und während wir beide den Stein anstarrten, fuhr ich fort: »Denk an das Muster!« Gleichzeitig begann ich ebenfalls daran zu denken und versuchte, mir seine Windungen und Wirbel, seine bleichschimmernden Linien vorzustellen.
Im Mittelpunkt des Steins glaubte ich einen schwachen Makel auszumachen. Während ich mir das Hin und Her der Linien, die Drehungen und Biegungen vorstellte, beschäftigte ich mich auch mit dieser feinen Verfärbung . . . ich stellte mir die Energie vor, die mich durchströmte, sobald ich diesen komplizierten Weg in Angriff nahm.
Die Verfärbung des Steins nahm immer mehr zu.
Ich richtete meinen Willen darauf, ließ die Erscheinung zur vollen Reife gedeihen. Dabei überkam mich ein vertrautes Gefühl – wie an jenem Tag, da ich mich auf das Juwel eingestimmt hatte. Ich konnte nur hoffen, daß ich kräftig genug war, um diese Erfahrung noch einmal durchzumachen.
Ich hob die Hand und packte Randoms Schulter.
»Was siehst du?« fragte ich ihn.
»Etwas, das dem Muster ähnlich ist«, antwortete er, »nur scheint es dreidimensional zu sein. Es befindet sich am Grunde eines roten Meeres . . .«
»Dann komm mit!« sagte ich. »Wir müssen dorthin.«
Wieder das Gefühl der Bewegung, zuerst ein Dahintreiben, dann ein sich immer mehr beschleunigender Sturz in Richtung auf die nie ganz klar erschauten Windungen des Musters im Juwel. Ich trieb uns mit Willenskraft voran, die Gegenwart meines Bruders neben mir spürend, und der rötliche Schein, der uns einhüllte, wurde dunkler, wurde zur Schwärze eines Nachthimmels. Das Muster wuchs mit jedem dröhnenden Herzschlag weiter an. Aus irgendeinem Grund lief dieser Vorgang müheloser ab als früher – vielleicht, weil ich bereits eingestimmt war.