»Was?« fragte er.
»Dies.«
Ich packte das Juwel mit hochschnellender Hand und zerrte mit einem Ruck die Kette über den Kopf. Sofort machte ich auf dem Absatz kehrt und hastete durch den Raum und zur Tür hinaus. Ich zog sie hinter mir ins Schloß. Sie ließ sich von außen nicht verriegeln, und so eilte ich weiter, den umgekehrten Weg gehend, auf dem ich Dworkin damals durch die Höhle gefolgt war. Hinter mir ertönte das erwartete Gebrüll.
Ich folgte den Windungen. Dabei kam ich nur einmal ins Stolpern. Wixers Geruch machte sich in seinem Höhlennest noch stark bemerkbar. Ich hastete weiter und sah nach einer letzten Biegung Tageslicht vor mir.
Ich eilte darauf zu, wobei ich die Kette des Juwels über den Kopf gleiten ließ. Ich spürte, wie es mir vor die Brust fiel. Mit dem Verstand drang ich in das Gebilde ein. In der Höhle hinter mir hallten Echos auf.
Das Freie!
Ich sprintete auf das Muster zu. Währenddessen konzentrierten sich meine Gefühle im Juwel, das zu einem zusätzlichen Sinnesorgan wurde. Außer Vater und Dworkin war ich die einzige Person, die voll auf das Juwel eingestimmt war. Dworkin hatte mir gesagt, das Muster ließe sich reparieren, indem eine Person in einem solchen Stadium der Einstimmung das Große Muster durchschreite und bei jeder Überquerung die Verfärbung ausbrenne, sie ersetzend durch Urmasse aus dem Bild des Musters, das sie mit sich herumtrüge, dabei die schwarze Straße auslöschend. Es war besser, wenn ich diesen Versuch machte, und nicht Vater. Ich war immer noch der Meinung, daß die schwarze Straße ihre endgültige Form zum Teil auch der Stärke meines Fluches gegen Amber verdankte. Auch diese Schuld wollte ich jetzt auslöschen. Ohnehin war Vater besser als ich dazu geeignet, nach dem Krieg wieder alles ins Lot zu bringen. In jenem Augenblick wurde mir klar, daß ich den Thron gar nicht mehr wollte. Selbst wenn er mir zugestanden hätte – welch überwältigende Aussicht, dem Königreich durch all die langweiligen Jahrhunderte zu dienen, die mir noch bevorstehen mochten! Vielleicht war es der problemlosere Ausweg, wenn ich bei diesem Versuch umkäme. Eric war tot, und ich haßte ihn nicht mehr. Das andere, von dem ich beflügelt worden war – das Streben nach dem Thron – schien mir aus heutiger Sicht nur vorhanden gewesen zu sein, weil ich gemeint hatte, er wolle es so. Nun löste ich mich von beidem. Was blieb übrig? Ich hatte Vialle ausgelacht, ehe ich nachdenklich wurde. Aber sie hatte recht gehabt. Der alte Soldat war in mir die größte Kraft. Es war eine Sache der Pflicht. Aber nicht nur der Pflicht. Es ging um mehr . . .
Ich erreichte den Rand des Musters und begab mich mit schnellen Schritten an seinen Anfang. Hastig blickte ich zur Höhlenöffnung hinüber. Vater, Dworkin, Fiona – von ihnen war noch niemand zu sehen. Gut. Sie würden mich nicht mehr aufhalten. Sobald ich einen Fuß auf das Muster stellte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten und zuzusehen. Einen Sekundenbruchteil lang dachte ich an Iagos Auflösung, dann verdrängte ich den Gedanken und versuchte mich soweit zu beruhigen, wie es für mein Vorhaben erforderlich war. Gleich darauf mußte ich an meinen Kampf gegen Brand an diesem Ort denken und an sein seltsames Verschwinden von hier – aber auch das schob ich zur Seite. Ich atmete langsamer, bereitete mich auf meine Aufgabe vor.
Eine gewisse Lethargie machte sich bemerkbar. Es war Zeit zu beginnen, doch ich zögerte noch einen Augenblick lang in dem Versuch, meinen Geist auf die gewaltige Anstrengung einzustimmen, die vor mir lag. Einen Augenblick lang verschwamm das Muster vor meinen Augen. Jetzt! Verdammt! Jetzt! Keine weiteren Vorbereitungen! Fang an! redete ich mir zu. Geh los!
Aber noch immer stand ich da und betrachtete das Muster wie in einem Traum. Im Hinschauen vergaß ich mich sekundenlang selbst – ich betrachtete das Muster mit der langen schwarzen Schmierstelle, die ich entfernen wollte . . .
Es erschien mir nicht mehr wichtig, daß ich dabei sterben konnte. Meine Gedanken gerieten ins Wandern, beschäftigten sich mit der Schönheit des Gebildes . . .
Da hörte ich ein Geräusch. Sicher Vater, Dworkin, Fiona. Ich mußte etwas unternehmen, ehe sie mich eingeholt hatten. Ich mußte das Muster beschreiten, gleich würde ich . . .
Ich riß den Blick von dem Muster los und blickte zur Höhle zurück. Die drei waren ins Freie getreten und ein Stück den Hang herabgekommen, waren dann aber stehengeblieben. Warum? Warum rührten sie sich nicht mehr?
Was machte das noch? Ich hatte genug Zeit, um anzufangen. Ich begann den Fuß zu heben, begann voranzuschreiten.
Aber ich konnte mich kaum bewegen. Mit großer Willensanstrengung schob ich den Fuß zentimeterweise voran. Dieser erste Schritt erwies sich als schlimmer als der letzte Teil des Musters. Aber ich schien weniger gegen einen äußeren Widerstand kämpfen zu müssen als gegen eine Trägheit meines eigenen Körpers. Es war beinahe, als würde ich . . .
Plötzlich sah ich die Vision Benedicts neben dem Muster in Tir-na Nog´th, während Brand sich spöttisch näherte, das lodernde Juwel auf der Brust.
Ehe ich den Blick senkte, wußte ich, was ich sehen würde.
Der rote Stein pulsierte im Takt meines Herzschlags.
Verdammt sollten sie sein!
In diesem Augenblick wirkten Vater oder Dworkin – oder beide – durch den Stein auf mich ein und lahmten mich. Ich bezweifelte nicht, daß die beiden jeweils auch allein über das Juwel gebieten konnten. Auf diese Entfernung wollte ich mich allerdings nicht ohne Gegenwehr in mein Schicksal ergeben.
Ich drängte weiter mit dem Fuß, ließ ihn langsam auf den Rand des Musters zugleiten. Sobald ich es berührte, hatten sie gewiß keine Gewalt mehr über mich . . .
Dösen . . . Ich spürte, wie ich zu fallen begann. Ich war eine Sekunde lang eingeschlafen. Und wieder verschwand meine Umwelt für kurze Zeit. Als ich die Augen öffnete, sah ich ein Stück des Musters vor mir. Als ich den Kopf drehte, erblickte ich Füße. Als ich aufblickte, entdeckte ich meinen Vater über mir, das Juwel in der Hand haltend.
»Geht jetzt!« sagte er zu Dworkin und Fiona, ohne den Kopf in ihre Richtung zu wenden.
Die beiden zogen sich zurück. Im gleichen Augenblick hängte er sich das Juwel wieder um. Anschließend beugte er sich vor und streckte mir die Hand hin. Ich ergriff sie, und er zog mich hoch.
»Das war sehr töricht gehandelt«, sagte er.
»Beinahe hätte ich´s geschafft.«
Er nickte.
»Aber du wärst dabei umgekommen, ohne etwas zu erreichen«, meinte er. »Trotzdem hast du es geschickt angestellt. Komm, machen wir einen Spaziergang!«
Er faßte mich am Arm, und wir wanderten am Rand des Musters entlang.
Ich beobachtete das seltsame Himmelsmeer, das uns horizontlos umgab, und fragte mich, was geschehen wäre, wenn ich das Muster betreten hätte, was sich in diesem Augenblick abspielen würde.
»Du hast dich verändert«, sagte er schließlich. »Oder ich habe dich nie richtig gekannt.«
Ich zuckte die Achseln.
»Vielleicht spielen beide Elemente hinein. Etwas Ähnliches wollte ich gerade über dich sagen. Verrätst du mir etwas?«
»Was?«
»Wie schwer ist dir die Rolle als Ganelon gefallen?«
Er lachte leise. »Gar nicht schwer«, gab er zurück. »Durch ihn magst du einen Eindruck von meinem wirklichen Ich bekommen haben.«
»Er gefiel mir. Ich meine, du als er. Was ist nur mit dem echten Ganelon?«
»Der ist tot, Corwin. Ich traf ihn, nachdem du ihn aus Avalon verbannt hattest, das ist lange her. Kein übler Kerl. Ich hätte ihm nicht über den Weg getraut, aber das tue ich ja bei keinem, wenn ich nicht unbedingt muß.«