Gérard schaute ihn verwirrt an. »Ich hoffe, er weiß, was er tut«, meinte er.
»Das haben wir doch schon durchgekaut«, sagte ich. »Leb wohl!«
Als ich das Zimmer verließ, hörte ich Schritte. Dara tauchte neben mir auf.
»Was noch?« fragte ich.
»Ich dachte, ich könnte dich begleiten.«
»Ich will nur den Hügel hinauf, um mir Vorräte zu besorgen. Dann muß ich zum Stall.«
»Ich komme mit.«
»Ich reite allein.«
»Ich könnte sowieso nicht mitreiten. Ich muß noch mit deinen Schwestern sprechen.«
»Ah, sie gehören also auch dazu?«
»Ja.«
Wir gingen schweigend nebeneinander her. Dann sagte sie: »Die ganze Sache war nicht so nüchtern, wie sie dir vorkommen muß, Corwin.«
Wir betraten den Proviantraum.
»Welche Sache?«
»Du weißt, was ich meine.«
»Ach, das. Na schön.«
»Ich mag dich. Es könnte eines Tages mehr als das sein, wenn du überhaupt etwas empfindest.«
Mein Stolz legte mir eine schnippische Antwort in den Mund, die ich aber nicht aussprach. Im Laufe der Jahrhunderte lernt man eben doch dazu. Sie hatte mich für ihre Ziele mißbraucht, doch wie es im Augenblick aussah, war sie damals nicht ganz Herr über ihre Entscheidungen gewesen. Schlimmstenfalls war zu sagen, daß Vater sich wünschte, daß ich sie begehrte. Daß ich mich darüber ärgerte, sollte aber keinen Einfluß haben auf das, was ich wirklich fühlte oder fühlen würde.
»Ich mag dich auch«, sagte ich also und schaute sie an. Es sah so aus, als brauche sie dringend einen Kuß, und ich küßte sie. »Aber jetzt muß ich mich fertigmachen.«
Sie lächelte und drückte mir den Arm. Dann war sie verschwunden. Ich nahm mir vor, meine Gefühle erst später zu analysieren, und stellte meine Vorräte zusammen.
Dann sattelte ich Star und ritt die Hänge Kolvirs hinauf, bis ich mein Grabmal erreichte. Neben dem Eingang sitzend, rauchte ich meine Pfeife und beobachtete die Wolken. Ich hatte das Gefühl, einen sehr angefüllten Tag hinter mir zu haben, dabei war es noch früher Nachmittag. In den Grotten meines Verstandes überschlugen sich die Vorahnungen – doch ich wagte es nicht, mich näher damit zu befassen.
3
Ich döste gerade vor mich hin, als der Kontakt mich überraschte. Ich sprang sofort auf. Es war Vater.
»Corwin, ich habe meine Entscheidungen getroffen. Die Zeit ist reif«, sagte er. »Mach deinen linken Arm frei!«
Ich gehorchte, während seine Gestalt sich noch weiter verdichtete und dabei immer königlicher aussah, eine seltsame Traurigkeit im Gesicht, wie ich sie bei ihm noch nie bemerkt hatte.
Er ergriff meinen Arm mit seiner linken Hand und zog mit der anderen seinen Dolch.
Ich sah zu, wie er mir in den Arm schnitt und die Klinge wieder fortsteckte. Blut quoll hervor, das er mit der linken Hand auffing. Er ließ meinen Arm los, bedeckte die linke Hand mit der rechten und entfernte sich einen Schritt. Die Hände vor das Gesicht hebend, hauchte er seinen Atem dazwischen und öffnete sie ruckartig.
Ein Vogel von der Größe eines Rabens, das Gefieder blutrot, bäumte auf seiner Hand, stieg auf seinen Unterarm und starrte mich an. Sogar die Augen waren rot, und irgendwie kam mir das Wesen vertraut vor, als es den Kopf auf die Seite legte und mich anblickte.
»Er ist Corwin, der Mann, dem du zu folgen hast«, sagte Vater zu dem Vogel. »Präge ihn dir ein!«
Dann setzte er sich das Tier auf die linke Schulter, von wo es mich weiter unverwandt anstarrte, ohne Anstalten zu machen, fortzufliegen.
»Du mußt dich auf den Weg machen, Corwin«, sagte er. »Und zwar sofort. Besteige dein Pferd und reite nach Süden! Verschwinde in den Schatten, so schnell es geht! Beginne einen Höllenritt! Entferne dich so weit wie möglich von hier!«
»Wohin, Vater?« fragte ich.
»Zu den Burgen des Chaos. Du kennst den Weg?«
»In der Theorie. Ich habe ihn nie zur Gänze zurückgelegt.«
Er nickte langsam. »Dann mach zu!« sagte er. »Du mußt ein möglichst großes Zeitdifferential zwischen diesem Ort und dir schaffen.«
»Na schön«, sagte ich. »Aber ich begreife das alles nicht.«
»Du wirst es begreifen, wenn die Zeit reif ist.«
»Aber es gibt einen einfacheren Weg«, wandte ich ein. »Ich komme schneller und weitaus müheloser ans Ziel, wenn ich mich mit Benedict und seinem Trumpf in Verbindung setze und mich von ihm hindurchholen lasse.«
»Das nützt nichts«, sagte Vater. »Du mußt den längeren Weg nehmen, weil du etwas bei dir trägst, das dir unterwegs übermittelt wird.«
»Übermittelt? Wie denn?«
Er hob den Arm und streichelte dem roten Vogel über das Gefieder.
»Durch deinen Freund hier. Er schafft den ganzen Weg zu den Burgen des Chaos nicht – zumindest nicht rechtzeitig.«
»Was wird er mir bringen?«
»Das Juwel. Ich glaube nicht, daß ich in der Lage bin, die Überbringung selbst zu veranlasen, wenn ich die Aufgabe erledigt habe, die ich dem Juwel und mir stellen muß. An jenem Ort könnte seine Macht uns irgendwie von Nutzen sein.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Trotzdem brauche ich nicht die ganze Strecke zurückzulegen. Ich könnte durch den Trumpf ans Ziel springen, nachdem ich das Juwel erhalten habe.«
»Das geht wohl leider nicht. Sobald ich getan habe, was ich hier tun muß, werden die Trümpfe für eine gewisse Zeit ihre Wirkung verlieren.«
»Warum?«
»Weil die gesamte Struktur unserer Welt sich verändern wird. Nun reite schon los, verdammt! Steig auf dein Pferd!«
Ich richtete mich auf und starrte ihn noch einen Moment lang an. »Vater, gibt es keine andere Möglichkeit?«
Er schüttelte nur den Kopf und hob die Hand. Gleichzeitig begann er zu verblassen.
»Leb wohl!«
Ich machte kehrt und stieg auf. Es hätte noch mehr zu sagen gegeben, aber dazu war es zu spät. Ich zog Star zu dem Weg herum, der mich nach Süden führen würde. Während Vater schon auf dem Gipfel Kolvirs mit den Schatten hatte spielen können, war mir das stets verwehrt geblieben. Ich mußte ein gutes Stück von Amber fort sein, ehe ich die ersten Verschiebungen bewirken konnte.
In dem Bewußtsein, daß es möglich war, wollte ich es heute aber einmal versuchen. Während ich also, den Weg nach Garnath ansteuernd, in südlicher Richtung über kahles Gestein und durch Felsschluchten ritt, durch die der Wind pfiff, versuchte ich die Stofflichkeit meiner Umwelt zu verformen.
. . . Ein kleines Büschel blauer Blumen an einer steinigen Kante.
Diese Entdeckung erfüllte mich mit Erregung, denn sie waren ein bescheidener Bestandteil meiner Bemühungen. Ich fuhr darin fort, der Welt meinen Willen aufzuerlegen.
Der Schatten eines dreieckigen Steines tauchte hinter der Wegbiegung auf . . . ein Umschlagen des Windes . . .
Einige kleinere Effekte funktionierten tatsächlich. Eine Rückwärtswendung des Weges . . . ein Spalt . . . ein uraltes Vogelnest hoch oben auf einem Felsvorsprung . . . Mehr blaue Blumen . . .
Warum nicht? Ein Baum . . . und ein zweiter . . .
Ich spürte, wie sich die Kraft in mir regte. Ich bewirkte neue Veränderungen.
Plötzlich kam mir hinsichtlich meiner neuentdeckten Fähigkeiten ein Gedanke. Durchaus möglich, daß ich aus rein psychologischen Gründen solche Manipulationen bisher nicht hatte durchführen können. Bis vor kurzem hatte ich Amber für die einzige unveränderbare Realität gehalten, von der alle Schatten ihre Gestalt ableiteten. In diesem Moment erkannte ich, daß Amber nur der erste Schatten war und daß der Ort, an dem sich mein Vater aufhielt, die höhere Realität darstellte. So erschwerte die unmittelbare Nähe zwar das Herbeiführen von Veränderungen, doch waren sie nicht unmöglich. Unter anderen Umständen hätte ich dennoch meine Kräfte gespart, bis ich eine Stelle erreichte, da mir die Verschiebungen nicht mehr so viel Mühe machten.
Heute aber war mir Eile aufgetragen worden. Ich würde mich anstrengen müssen, würde hetzen müssen, um den Wünschen meines Vaters nachzukommen.