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Aber über ein Jahr lang war nirgends auf der Welt ein Chronolith angekommen und manche von uns hatten sich glauben gemacht, die Krise sei, wenn schon nicht richtig vorüber, so doch lediglich eine asiatische — geographisch begrenzt, durch die Meere in Schranken gehalten.

Unsere öffentlichen Auslassungen waren freimütig und distanziert. Ein Großteil Südchinas stagnierte in einem politischen und militärischen Chaos, war ein Niemandsland, in dem Kuin womöglich schon dabei war, Gefolgsleute um sich zu scharen. Und ein Leitartikel in der Zeitung vom Vortag hatte gefragt, ob sich Kuin nicht auf lange Sicht als positive Kraft herausstellen könnte: Nun sei ein Kuin-Imperium wohl kaum eine wohlwollende Diktatur, doch es könne durchaus wieder Berechenbarkeit in eine bedrohlich instabile Region bringen. Was noch von der ramponierten Beijing-Bürokratie übrig war, hatte bereits versucht, den sogenannten Kuin von Yichang aus dem letzten Jahr mit einer taktischen Nuklearwaffe zu zerstören und war kläglich damit gescheitert. Ergebnis war ein Dammbruch und eine Flut gewesen, die radioaktiven Schlamm bis ins Ostchinesische Meer gespült hatte. Und wenn ein verstümmeltes Beijing zu so etwas fähig war, wie sollte man da ein Kuin-Regime fürchten?

Ich hatte dazu keine Meinung. Wir alle waren Ignoranten damals, auch die Interessierten, die die Chronolithen analysierten (nach Datum, Größe, Eroberung und dergleichen), damit wir so tun konnten, als verstünden wir sie. Ich habe da nie mitgemacht. Seit es mit meiner Ehe bergab gegangen war, hatten die Chronolithen mein Leben überschattet. Sie standen geradezu für alle unheilvollen und unberechenbaren Mächte der Welt. Es gab Zeiten, da sie mir tiefe Angst einjagten. Und ich habe diese Angst auch zugelassen — ganz oft.

Ist das eine fixe Idee? Annalie war der Meinung.

Ich versuchte Schlaf zu finden. Schlaf, der des Grams verworrn Gespinst entwirrt…[11] Schlaf, der die Pause zwischen Mitternacht und Tagesanbruch unschädlich machte.

Nicht einmal das war mir vergönnt. Eine Stunde vor Sonnenaufgang schnurrte das Handy. Ich hätte warten sollen, bis sich der Server einschaltete. Stattdessen grapschte ich nach dem Ding und schnippte es auf, besorgt — wie stets, wenn spät nachts jemand anrief —, es könnte Kait etwas zugestoßen sein. »Hallo?«

»Scott«, sagte eine raue männliche Stimme. »Scotty.«

Einen paranoiden Moment lang kam mir Hitch Paley auf seiner Maschine entgegen, ein stocksaures Gespenst aus der Vergangenheit. Ich hatte seit 2021 nichts mehr von ihm gehört.

Aber es war nicht Hitch.

Es war ein anderes Gespenst.

Ich lauschte dem röchelnden Atem, dem Kommen und Gehen der Nachtluft in einer welken Lunge. »Dad?«

»Scotty…«, sagte er, als komme er nicht über den Namen hinaus.

»Dad, hast du getrunken?« Ich war so taktvoll, das Wörtchen »wieder« wegzulassen.

»Nein«, sagte er verärgert. »Nein, ich… ähm, scheiß was drauf. So behandelt man… behandelt man… na ja, du weißt schon… Scheiße

Dann war er fort.

Ich wälzte mich aus dem Bett.

Ich sah zu, wie im Osten die Sonne über den landwirtschaftlichen Genossenschaften aufging, unseren großen selbstständigen Farmkollektiven, unserem Bollwerk gegen den Hunger. Schnee lag wie Puderzucker auf den Feldern, weiß glitzernd zwischen den leeren Saatfurchen.

Später fuhr ich zu Annalies Wohnung, klopfte an die Tür.

Wir hatten uns seit einem Jahr nicht mehr verabredet, gingen aber, wenn wir uns in der Kantine oder in der Cafeteria trafen, immer noch sehr nett miteinander um. Sie hegte zu jener Zeit entfernt mütterliche Gefühle für mich — erkundigte sich eingehend nach meiner Gesundheit, als erwarte sie, dass früher oder später etwas ganz Schlimmes passieren würde (vielleicht war es längst passiert, obwohl ich nach wie vor die Gesundheit eines Pferdes hatte).

Doch als sie die Tür aufmachte und mich dastehen sah, war sie verblüfft. Verblüfft und unverkennbar erschrocken.

Sie wusste, dass man mich entlassen hatte! Vielleicht wusste sie noch mehr.

Weshalb ich sie aufgesucht hatte: wegen der vagen Möglichkeit, Licht in meine Angelegenheit zu bringen.

»Scotty«, sagte sie, »he, du hättest erst anrufen sollen.«

»Du hast zu tun?« Sie sah nicht danach aus. Sie trug einen lockeren Hosenrock und ein verschossenes gelbes Hemd. Vielleicht war sie gerade dabei, die Küche aufzuräumen.

»In ein paar Minuten geh ich aus. Ich würde dich ja hereinbitten, aber ich muss mich noch umziehen und… Was führt dich her?«

Sie hatte, wie ich feststellte, tatsächlich Angst vor mir — oder davor, mit mir gesehen zu werden.

»Scott?« Sie sah den Flur hinauf und hinunter. »Hast du Probleme?«

»Warum soll ich Probleme haben, Annalie?«

»Naja — ich habe gehört, man hat dir gekündigt.«

»Seit wann?«

»Ich verstehe nicht.«

»Seit wann du weißt, dass ich entlassen werden sollte?«

»Du meinst, ob alle Bescheid wussten? Nein, Scott. Mein Gott, das war ja demütigend. Nein, man hört Gerüchte…«

»Was für Gerüchte?«

Sie schob steile Fältchen zwischen die Brauen und nagte an der Unterlippe. Das war neu an ihr. »Das, woran Campion-Miller arbeitet, verträgt keinen Ärger mit der Regierung.«

»Was, zum Teufel, hat das mit mir zu tun?«

»Schrei nicht so!«

»Annalie — Ärger mit der Regierung

»Ein paar Leute sollen sich nach dir erkundigt haben. Regierungsleute oder so.«

»Polizei?«

»Hast du Ärger mit der Polizei? Nein, Leute in Zivil. Vielleicht vom Finanzamt, ich weiß nicht.«

»Das ergibt keinen Sinn.«

»Das wird geredet, Scott. Das kann alles Quatsch sein. Ich hab keine Ahnung, warum man dich gefeuert hat. Es ist nur, dass CM — dass man auf die ganzen Genehmigungen angewiesen ist. Das ganze technische Zeug für Übersee. Wenn jemand kommt und Erkundigungen über dich einzieht, sind eben alle betroffen.«

»Annalie, ich bin kein Sicherheitsrisiko.«

»Weiß ich, Scott.« Das wusste sie eben nicht. Sie mied meine Augen. »Ehrlich, ich bin mir sicher, dass alles nur Quatsch ist. Aber jetzt muss ich mich wirklich umziehen.« Sie begann die Tür zentimeterweise zu schließen. »Das nächste Mal ruf um Himmels willen an!«

Sie wohnte im zweiten Stock eines kleinen dreistöckigen Backsteingebäudes in der Altstadt von Edina. Apartment 203. Ich starrte auf die Zahl an der Tür. Zwanzig und Drei.

Ich habe Annalie Kincaid nie wiedergesehen. Gelegentlich frage ich mich, was sie wohl für ein Leben führt. Wie es ihr erging in den langen schweren Jahren.

Ich ließ Janice nicht wissen, dass ich arbeitslos war. Nicht, dass ich noch immer versucht hätte, ihr etwas zu beweisen. Mir selbst schon eher. Und Kaitlin ganz sicher.

Nicht, dass Kait sich geschert hätte, wie ich meine Brötchen verdiene. Mit zehn nahm sie die Angelegenheiten der Erwachsenen als undurchsichtig und uninteressant wahr. Sie wusste nur, dass ich »zur Arbeit« ging und genug verdiente, um ein angesehenes, wenn nicht wohlhabendes Mitglied der Erwachsenenwelt zu sein. Und das war gut so. Es gefiel mir, mich gelegentlich mit Kaits Augen zu sehen: Gefestigt. Berechenbar. Langweilig sogar.

Aber nicht enttäuschend.

Und bestimmt nicht gefährlich.

Ich wollte nicht, dass Kait — oder Janice oder gar Whit — erfuhren, dass man mich gefeuert hatte… zumindest nicht gleich, nicht bevor ich etwas hatte, das ich der Geschichte hinzufügen konnte. Wenn schon kein Happy-End, so doch ein zweites Kapitel, eine Antwort auf die Frage: Was nun?

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Zitat aus:»Macbeth«von Shakespeare in der Übersetzung von Dorothea Tieck, 2. Aufzug, 2. Szene