Bis ich sie schließlich fragte: »Gut, ich hab also meinenjob verloren — wie hast du das erfahren?«
»Na ja, das hat damit zu tun, dass ich anrufe. Ich fühle mich gewissermaßen mitverantwortlich.«
Mir fiel ein, was Arnie Kunderson über »Feinde im Management« gesagt hatte. Und über »Leute in Zivil«. Ich sagte: »Egal, was du mir erzählen musst, leg los.«
»Okay, aber du musst Geduld haben. Ich gehe davon aus, dass du nirgends hin musst. Nicht noch aufs Klo?«
»Ich halte dich auf dem Laufenden.«
»Okay. Tja. Wo soll ich anfangen? Hast du noch nie bemerkt, wie schwer es ist, Ursache und Wirkung auseinander zu halten? Alles wird immer verwickelter.«
Als der Chumphon-Chronolith auftauchte, hatte Sue bereits eine beträchtliche Anzahl von Aufsätzen über bestimmte Formen exotischer Materie und C-Y-Transformationen veröffentlicht (»Non-Baryonic Matter and How to Untie Knots in String«).[15] Viele befassten sich mit Problemen der zeitlichen Symmetrie — ein Konzept, das sie mir, wie es schien, unbedingt erklären wollte, bis ich sie stoppte. Nach dem Chumphon-Monument, als der Kongress die potenzielle Bedrohung durch die Chronolithen ernstzunehmen begann, da hatte man sie eingeladen, sich an einem Forschungsprojekt zu beteiligen, das von einer Hand voll Sicherheitsdiensten gesponsert und aus einem Topf bereits bewilligter Bundesmittel finanziert wurde. Man erklärte ihr, es handle sich um Grundlagenforschung, an der auch die Cornell-Fakultät und etliche ältere Kollegen beteiligt seien, ein Halbtagsjob, etwas, das ihrer Karriere nur förderlich sei. »Das war wie Los Alamos, verstehst du, nur ein bisschen entspannter.«
»Entspannter?«
»Anfangs wenigstens. Also hab ich zugesagt. Es war in diesen ersten paar Monaten, als ich auf deinen Namen stieß. Damals ging es noch ziemlich offen zu. Ich bekam allerhand Akten zu Gesicht. Unter anderem ein Stammverzeichnis von Augenzeugen, die man in Thailand verhört hatte.«
»Aahh.«
»Und da warst du natürlich dabei. Wir überlegten, ob wir die ganzen Leute einbeziehen sollten, also alle, die wir auftreiben konnten, für Blutproben und so weiter, aber wir entschieden uns dagegen — zu viel Arbeit, zu viel Aufsehen, und dass dabei etwas Verwertbares herauskam, war ziemlich unwahrscheinlich. Außerdem hätte es juristische Probleme gegeben. Aber ich erinnerte mich an deinen Namen auf der Liste. Ich wusste, dass du es warst, weil man praktisch deine komplette Vita festgehalten hatte, einschließlich Cornell, einschließlich eines Hypertext-Links zu mir.«
Und wieder kam mir Hitch Paley in den Sinn. Hitch musste auch auf der Liste gestanden haben. Vielleicht hatte man seine Geschäfte ein bisschen gründlicher durchleuchtet. Vielleicht saß er hinter Gittern. Vielleicht hatte es deshalb bei Easy's Packages nichts zum Abholen gegeben und vielleicht hatte ich deshalb nichts mehr von ihm gehört.
Das alles behielt ich natürlich für mich.
Sue fuhr fort. »Na ja, ich hab mir sozusagen eine mentale Notiz gemacht und das war's dann schon, bis vor kurzem wenigstens. Du musst verstehen, Scott, die Entwicklung der Krise hat uns ziemlich paranoid gemacht. Berechtigterweise vielleicht. Besonders seit Yichang; Yichang hat uns den Rest gegeben. Weißt du, wie viele Menschen allein durch die Flut ums Leben gekommen sind? Ganz zu schweigen vom Einsatz einer Nuklearwaffe — das hat es zum letzten Mal vor der Jahrhundertwende gegeben.«
Das musste sie mir nicht erzählen. Ich hatte alles verfolgt. Ich hätte mich gewundert, wenn NSA oder CIA oder FBI nicht die Finger in dem Forschungsprojekt gehabt hätten. Die Chronolithen waren zu einer existenziellen Bedrohung geworden. Was wir im Hinterkopf hatten — selten angesprochen, selten expressis verbis —, war das Bild eines Chronolithen auf amerikanischem Boden: Kuin, der auf Houston oder New York oder Washington herabsah.
»Als ich dann wieder auf deinen Namen stieß… na ja, da stand er auf einer anderen Liste. Das FBI kümmert sich wieder um die Augenzeugen. Ich meine, man hat dich von Anfang an im Auge behalten. Nicht richtig überwacht, nein, aber wenn du zum Beispiel Staatsgrenzen passiert hast, dann wurde das zu Protokoll genommen…«
»Christus, Sue!«
»Alles harmlose Beschäftigungstherapie. Bis vor kurzem. Als deine Arbeit bei Campion-Miller auf dem Radar erschien.«
»Ich schreibe Business-Software. Wo ist da…?«
»Das ist viel zu bescheiden, Scotty. Du hast richtig sensible Arbeit gemacht mit Marketing-Heuristik und kollektiver Erwartung. Ich hab mal reingeguckt in deinen Code…«
»Du hast Quellcode von Campion-Miller gesehen?«
»Campion-Miller zog es vor, den Behörden Einblick zu gewähren.«
Ich begann eins und eins zusammenzuzählen. Ein inquisitorischer FBI-Besuch bei Campion-Miller musste beim Management Alarmstufe Eins ausgelöst haben, zumal es Kerncode war, der auf den Prüfstand sollte. Und das erklärte auch Arnie Kundersons merkwürdige Verschlossenheit, diese Aura von Vorhang-zu/Licht-aus, die meinen Rausschmiss begleitet hatte.
»Willst du damit sagen, dass du meinen Rausschmiss betrieben hast?«
»Niemand wollte, dass du deinen Job verlierst. Aber als es passierte, kam es nicht ungelegen.«
Nicht ungelegen war die letzte Umschreibung, die ich benutzt hätte.
»Siehst du, wie das zusammenhängt, Scotty? Du bist vor Ort, als der Chumphon-Chronolith auftaucht, was dir alleine schon wie ein Feuermal anhaftet. Jetzt, fünf Jahre später, stellt sich heraus, du entwickelst Algorithmen, die für unsere Sache von eminenter Bedeutung sind.«
»Sind sie das?«
»Vertrau mir. Ich hab den Aktenvermerk gelesen. Ich hab ein gutes Wort für dich eingelegt, und das hat sie ein bisschen gebremst, aber ich will offen zu dir sein, ein paar sehr einflussreiche Leute regen sich viel zu sehr auf. Es ist nicht bloß Yichang, es ist die Wirtschaft, es sind die Krawalle, die ganzen Scherereien bei der letzten Wahl… der Grad an Nervosität ist unbeschreiblich. Als ich hörte, du seist rausgeflogen bei Campion-Miller, hatte ich die glänzende Idee, dich hierher zu holen.«
»Als was? Als Gefangenen?«
»Wohl kaum. Ich nehme deine Arbeit ernst, Scotty. Was die Code-Ökonomie angeht, einfach Spitze. Und sehr, sehr relevant. Es sieht vielleicht nicht so aus, aber eine ganze Menge von dem, was ich neulich sehen durfte, modelliert die Auswirkungen von Erwartungen auf das Massenverhalten. Wendet Feedback- und Rekursionstheorie sowohl auf physikalische Ereignisse als auch auf menschliches Verhalten an.«
»Ich bin ein kleiner Programmierer, Sue. Ich will erst gar nicht so tun, als verstünde ich die Algorithmen, die ich da gezüchtet habe.«
»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Das ist bahnbrechende Arbeit. Und es wäre offengestanden viel schöner, wenn du sie für uns machen würdest.«
»Ich frage mich die ganze Zeit: Bist du an meiner Arbeit interessiert oder an der Tatsache, dass ich in Chumphon war?«
»An beidem. Ich glaube nicht an diesen Zufall.«
»Aber es ist Zufall.«
»Ja, im herkömmlichen Sinne, aber… o Scotty, das kann man nicht alles per Telefon bereden. Du musst unbedingt herkommen.«
»Sue…«
»Du willst mir sagen, du fühlst dich, als hätte ich dich mit dem Kopf in den Mixer gesteckt. Du willst mir sagen, du kannst so eine Entscheidung jetzt nicht treffen, weil du im Schlafanzug dastehst und Dosenbier trinkst und dir selbst Leid tust.«
Ich trug Jeans und Sweatshirt. Das andere stimmte.
»Also entscheide dich jetzt nicht«, sagte sie. »Aber komm unbedingt nach Baltimore. Auf meine Kosten. Dann können wir reden. Ich organisiere das.«