Zwanzig Jahre in der Zukunft.
Zwei
Ich flog in die Staaten, mit einer frischgebackenen Fluggesellschaft, die je ein Standbein in Beijing, Düsseldorf, Gander und Boston hatte — einmal um die Erde, mit nervtötenden Zwischenstationen — und landete schließlich im Logan Airport, mit imitierten Designerkoffern in bester Bangkok-Tradition, einem Fünftausend-Dollar-Guthaben und einer unliebsamen Verpflichtung, alles dank Hitch Paley. Ich war daheim, was immer ich mir davon versprach.
Es war erstaunlich, wie unverdient reich mir Boston nach einer Strandsaison erschien, und zwar noch ehe ich das Terminal verließ, als seien die ganzen schimmernden Lokale und Zeitungskioske nach einem kräftigen Regenguss wie Pilze aus dem Boden geschossen. Hier war nichts älter als fünf Jahre, weder das Terminalgebäude noch die Atlantikverfüllung, auf der es stand, eine Errungenschaft, die jünger war als die meisten ihrer Schirmherren. Ich unterwarf mich einer nicht-invasiven Zollkontrolle, durchquerte den hallenden Arrivals-Komplex und steuerte auf einen Taxistand zu.
Das Rätsel des Chumphon-Chronolithen — wie ihn ein Wissenschaftsjournalist erst vorigen Monat getauft hatte — war bereits in der öffentlichen Wahrnehmung verblasst. Es wurde noch darüber berichtet, aber hauptsächlich in den Supermarktblättchen (Totem des Teufels oder Posaune des Jüngsten Gerichts) und in zahllosen verschwörungsorientierten Webjournalen. Dem zeitgenössischen Leser mag es unbegreiflich erscheinen, aber die Welt war zu den näher liegenden Dingen übergegangen — Brazzaville 3, die Windsor-Hochzeiten, der Mordversuch an der Diva Lux Ebone auf dem Roma-Festival am letzten Wochenende. Es war, als warteten wir allesamt auf das, was dem neuen Jahrhundert seinen Stempel aufdrücken sollte, auf das Etwas oder die Person oder das abstrakte Ereignis, das wir für das absolute Novum, das Wahrzeichen des einundzwanzigsten Jahrhunderts halten würden. Und selbstverständlich erkannten wir es nicht, wenn es sich zum ersten Mal in die Nachrichten drängelte. Der Chronolith war etwas Einzigartiges, faszinierend, ja, aber äußerst unergründlich und daher äußerst langweilig. Man legte ihn beiseite wie ein frustrierendes Kreuzworträtsel.
Tatsächlich gab es auch weiterhin großes Interesse an dem Ereignis in Thailand, aber nur von bestimmten nachrichtendienstlichen und militärischen Kreisen auf nationaler wie internationaler Ebene. Der Chronolith war schließlich eine unverhohlen feindliche militärische Intervention großen Stils und äußerster Heimtücke, auch wenn die einzigen Opfer ein paar tausend knorrige Bergkiefern waren. Die Provinz Chumphon gehörte zur Zeit zu den bestüberwachten Gegenden der Welt.
Doch was ging mich das an? Ich gedachte das alles von mir abzuschütteln, indem ich ein paar tausend Meilen nach Westen flog.
So dachten wir damals.
Der Herbst war ungewöhnlich kalt. Wolken eilten am Himmel dahin; ein starker Wind beutelte die letzte Fischerflotte des Jahres. Außerhalb des Straßenatriums des AmMag-Bahnhofs knatterte eine Phalanx von Fahnen.
Ich bezahlte das Taxi, durchquerte die Eingangshalle und erstand ein Ticket für den Northern Tier Express: Detroit, Chicago und über die Prärie nach Seattle, obwohl ich nur bis Minneapolis wollte. Einsteigen ab 19.00 Uhr, teilte mir der Automat mit. Ich erstand eine Zeitung und las sie auf dem Münzmonitor, bis die Bahnhofsuhr 16.30 zeigte.
Dann stand ich auf, sondierte die Halle nach verdächtiger Aktivität (nichts) und trat auf die Washington Street hinaus.
Fünf Blocks südlich des Magnetschwebebahnhofs gab es eine winzige, uralte Poststelle mit Namen Easy's Packages and Parcels.
Der Laden schien kaum frequentiert, die Mylarfolie hinter der Schaufensterscheibe starrte vor Fliegendreck. Ein Mann mit stählernem Laufgestell bugsierte sich durch die Eingangstür und tauchte nach zehn Minuten mit einem braunen Papierumschlag wieder auf. Das war vermutlich der typische Kunde in solchen Klitschen wie Easy's, einer aus dem goldenen Zeitalter, bis zum Erbrechen loyal gegenüber dem, was von der US-Post noch übrig war.
Es sei denn, der Gentleman mit der Gehhilfe war ein Verbrecher mit Latexmaske. Oder ein Polizist.
Ob ich Skrupel hatte bei dem, was ich vorhatte? Viele — zumindest Bedenken. Hitch hatte meine Heimreise finanziert und der Gefallen, den ich ihm dafür tun sollte, hatte, als wir ohne einen Pfennig Geld am Strand gelegen hatten, durchaus simpel geklungen. Als der Chumphon-Chronolith aufgetaucht war, kannte ich Hitch kaum ein Jahr; er gehörte zu den wenigen Stammkunden des Haat Thai, deren Gesprächsstoff sich nicht in sexuellen Eroberungen und Designerdrogen erschöpfte. Er war ein Meister in dubiosen Geschäften, war aber im Grunde eine ehrliche Haut (wie ich Janice immer wieder beteuert hatte) und »kein schlechter Mensch«. Was immer das hieß. Ich vertraute ihm — in Grenzen natürlich.
Doch während ich dastand und nach Anzeichen fahndete, ob Easy's Packages polizeilich überwacht wurde — wobei ich eine professionelle Überwachung sicher nicht bemerkt hätte, es sei denn, das Finanzministerium hätte zufällig eine Anzeigetafel gemietet, um seine Anwesenheit kundzutun —, kamen mir meine Kopfnoten für Hitch oberflächlich und naiv vor. Hitch hatte mich gebeten, Easy's aufzusuchen, seinen Namen zu nennen und »ein Paket« entgegenzunehmen, das ich solange behalten sollte, bis er sich mit mir in Verbindung setzte; Fragen durfte ich keine stellen.
Fest stand, dass Hitch ein Dealer war, wiewohl sich sein Strandgeschäft auf Cannabis, exotische Pilze und die milderen Phenylethylamine beschränkte. Und Thailand war seit Marco Polo ein Herkunftsland und ein etablierter Umschlagplatz für Rauschgift.
Ich war nicht eben bescheiden, was Rauschmittel betraf, und ich hatte nicht wenige probiert. Praktisch jede psychotrope Substanz war irgendwo erlaubt und fast alle waren im liberalen Westen entkriminalisiert, aber in den Vereinigten Staaten und insbesondere in Massachusetts wurde das Befördern harter Drogen unverändert schwer bestraft. Sollte Hitch es irgendwie gedeichselt haben, sich selbst, sagen wir, ein Kilo Black-Tar-Heroin zu schicken — und sollte sein Humor ausreichen, es in meine Obhut zu geben —, dann würde ich mein Ticket in die Heimat womöglich mit Gefängnis bezahlen. Dann würde ich Kaitlin womöglich nur noch durch Drahtglas zu sehen bekommen, mindestens bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag.
Urplötzlich regnete es in Sturzbächen. Ich lief über die Straße, schnaufte die feuchte Luft und betrat Easy's Packages.
Easy persönlich oder jemand wie er — ein großer, kompliziert gerunzelter, muskulöser schwarzer Mann von vielleicht sechzig oder achtzig — stand hinter der Hartholztheke und bewachte eine Reihe nebelgrau mattierter Alu-Briefkästen. Er sah mich kurz an. »Kann ich helfen?«
»Ich bin hier, um ein Paket abzuholen.«
»Welche Mailbox-Nummer?«
Hitch hatte mir keine Nummer gegeben. »Hitch Paley sagt, hier wartet ein Paket auf mich.«
Seine Augen verengten sich und sein Kopf schien sich in plötzlicher Entrüstung um ein Viertelzoll zu heben. »Hitch Paley?«
Nach dem Tonfall zu urteilen, ging die Sache bereits schief, aber ich nickte.
»Hitch zum Teufel mit Paley!« Er hieb die Faust auf die Theke. »Ich weiß nicht, wer, zum Teufel, Sie sind, aber wenn Sie zufällig Hitch Paley treffen, dann bestellen Sie dem Arschloch, wir wären noch lange nicht quitt! Er soll sich seine Scheißpakete sonstwo hinstecken!«
»Sie haben also nichts für mich?«
»Habe ich was für Sie? Was habe ich denn für Sie? Meine Stiefelspitze hätte ich für Sie!«
Ich war im Nu zur Tür hinaus.