Und Kuin natürlich, wie ein schwellender Paukenschlag.
Pjöngjang, dann Ho-Chi-Minh-City; schließlich Macao, Sapporo, die Kanto-Ebene, Yichang…
Und die ganze frühe Kuin-Psychose und Kuin-Faszination, jene zehntausend Webseiten mit ihren sonderbaren und widersprüchlichen Theorien, das endlose Köcheln der Mystery-Presse, die Kuin-Symposien und Kuin-Komitees, die Expertenkommissionen und die vom Kongress angestrengten Untersuchungen. Der junge Mann in Los Angeles, der seinen Namen legal in »Kuin« ändern ließ, und der ganze Rattenschwanz seiner Nachahmer.
Kuin, was immer oder wer immer das war, hatte bereits den Tod von Hunderttausenden verursacht (es wurden auch höhere Zahlen genannt). Grund genug, seinem Namen in angesehenen Kreisen Gewicht beizumessen. Aus demselben Grund erfreute er sich bei Komikern und T-Shirt-Designern großer Beliebtheit. Gewisse Schulen untersagten »Kuinistische« Darstellungen, bis die ACLU[9] intervenierte. Weil der Name für nichts Erkennbares stand, abgesehen von Zerstörung und Eroberung, wurde er zur Schiefertafel, auf der die Unzufriedenen ihre Manifeste schmierten. Nichts davon wurde schrecklich ernst genommen in Nordamerika. Woanders klang das seismische Grollen bedrohlicher.
Ich habe alles genau verfolgt.
Zwei Jahre habe ich in der Forschungsabteilung von Campion-Miller außerhalb von Saint Paul gearbeitet und sich selbst entwickelnden kommerziellen Interface-Code optimiert. Dann wurde ich in die Stadt versetzt, wo ich zu einem Team gehörte, das so ziemlich dasselbe tat, allerdings mit sehr viel sensiblerem Material, mit Campion-Millers bestgehütetem Quellcode, dem schlagenden Herzen unserer Spitzenprodukte. Die meiste Zeit kam ich mit dem Wagen zur Arbeit, nur an den schlimmsten Wintertagen fuhr ich mit der neuen Hochbahn, einem Aluminiumbehältnis mit zu vielen Pendlern, zu warm und zu feucht, zu viel Körpergeruch und Aftershave, die Stadt nur noch ein bleiches Leinen hinter dampfenden weißen Fensterscheiben.
(Auf einer solchen Fahrt fiel mir eine junge Frau auf, die ein Stück weit von mir entfernt saß und einen Hut trug, auf dem die Worte TWENTIE AND THREE standen — zwanzig Jahre und drei Monate, der konstante Abstand zwischen dem Auftauchen eines Chronolithen und dem darauf vorhergesagten Sieg. Sie las eine zerfledderte Ausgabe von »Stranger than Science«, ein Titel, der bestimmt seit sechzig Jahren vergriffen war. Ich wollte mich ihr nähern, um sie zu fragen, welchen Umständen sie diese Zutaten zu verdanken hatte, diese Echos aus meiner Vergangenheit, aber ich war wohl zu schüchtern und wie auch hätte ich die Frage formulieren sollen? Ich bin ihr nie wieder begegnet.)
Ein paarmal habe ich mich verabredet. Fast ein ganzes Jahr lang ging ich mit Annalie Kincaid aus, einer Frau aus der Qualitätskontrolle von Campion-Miller; sie liebte Türkis und das Neue Drama und nahm regen Anteil am aktuellen Geschehen. Sie schleppte mich zu Vorträgen und Lesungen, die ich sonst ignoriert hätte. Schließlich trennten sich unsere Wege, denn sie hatte tiefe und komplexe politische Überzeugungen und ich nicht; ich war ein Kuin-Beobachter, ansonsten politisch unbeleckt.
Bei einer Gelegenheit zumindest konnte ich ihr imponieren. Sie hatte bei Campion-Miller jemandes Papiere benutzt, um uns Zugang zu einer akademischen Konferenz an der Universität zu beschaffen — »The Chronoliths: Scientific and Cultural Issues«.[10] (Diesmal ebenso meine wie ihre Idee. Tatsächlich eher meine. Annalie hatte bereits gegen die Luft- und Satellitenaufnahmen von Chronolithen protestiert, die mein Schlafzimmer zierten, und gegen die ganzen Kuin-Downloads, die im Apartment herumlagen.) Wir saßen die Präsentation von drei Referaten und den größten Teil eines wunderschönen Samstagnachmittags aus, bevor Annalie entschied, der Diskurs sei ein bisschen zu abstrakt für ihren Geschmack. Doch auf dem Weg durch das Foyer wurde ich freudig von einer älteren Frau in lockeren Jeans und einem weiten erbsengrünen Pullover begrüßt, die mich durch ihre monströse Brille anstrahlte.
Sie hieß Sulamith Chopra. Ich hatte sie in Cornell kennen gelernt. Ihre Karriere hatte sie tief in die fundamentale Physik der Chronolithenforschung geführt.
Ich machte Annalie mit Sue bekannt.
Annalie war baff. »Ms. Chopra, ich kenne Sie doch. Ich meine, man hört ständig Ihren Namen in den Nachrichten.«
»Tja, man tut, was man kann.«
»Es freut mich, Sie kennen zu lernen.«
»Ganz meinerseits.« Doch Sues Augen hatten mich nicht losgelassen. »Seltsam, dir ausgerechnet hier in die Arme zu laufen, Scotty.«
»Findest du?«
»Komisch. Hat vielleicht etwas zu bedeuten. Oder auch nicht. Wir haben uns sicher viel zu erzählen.«
Ich fühlte mich geschmeichelt. Ich hätte mich nur zu gerne mit ihr unterhalten. Großspurig reichte ich ihr meine Visitenkarte.
»Nicht nötig«, sagte sie. »Ich finde dich, wenn ich dich brauche, Scotty. Keine Bange.«
»Meinst du?«
Doch sie war bereits in der Menge verschwunden.
»Du hast gute Beziehungen«, sagte Annalie auf der Heimfahrt.
Aber das stimmte nicht. (Sue rief nicht an — nicht in diesem Jahr — und meine Anstrengungen, sie zu erreichen, liefen ins Leere.) Ja, ich hatte Beziehungen, keine guten, aber auch keine x-beliebigen. Sue Chopra in die Arme zu laufen, war ein Omen, so wie diese Frau in der Hochbahn; doch die Bedeutung war mir ein Rätsel, eine Prophezeiung in einer nicht zu entziffernden Sprache, ein Signal versteckt im Rauschen.
In Arnie Kundersons Büro gerufen zu werden, bedeutete nichts Gutes. Er war mein Vorgesetzter, seit ich bei Campion-Miller war, und ich wusste: Gab es gute Nachrichten, brachte er sie. Musste man zu ihm, musste man mit dem Schlimmsten rechnen.
Ich hatte ihn wütend erlebt, vor kurzem, als das Team, das ich leitete, ein Order-sort-and-mail-Protokoll versiebt hatte, was uns beinahe den Vertrag mit einer landesweiten Einzelhandelskette gekostet hätte. Aber als ich an diesem Tag sein Büro betrat, wusste ich, dass es sich um etwas noch Ernsteres handelte. Wenn Arnie wütend war, dann kochte er, lief rot an. Heute saß er hinter seinem Schreibtisch mit der Miene eines Mannes, der eine scheußliche, aber unumgängliche Pflicht zu erfüllen hat — der Miene eines, sagen wir, Bestattungsunternehmers. Er vermied jeden Blickkontakt.
Ich zog mir einen Sessel heran und wartete. Wir gingen ganz normal miteinander um. Jeder war zum Grillen beim anderen gewesen.
Er faltete die Hände und sagte: »Es gibt Dinge, die kann man noch so schön verpacken. Was ich sagen will, Scott: Campion-Miller wird Ihren Vertrag nicht erneuern. Er wird aufgelöst. Das ist die offizelle Kündigung. Ich weiß, das kommt ohne jede Vorwarnung, und es tut mir weiß Gott furchtbar Leid, Ihnen das sagen zu müssen. Sie bekommen natürlich die volle Abfindung und großzügige Ausgleichszahlungen für die restlichen sechs Monate.«
Ich war scheinbar nicht so bestürzt, wie Arnie erwartet hatte. Der wirtschaftliche Zusammenbruch in Asien hatte große Teile der Auslandsmärkte wegbrechen lassen. Noch im letzten Jahr war die Firma von einem multinationalen Konzern aufgekauft worden, dessen Management ein Viertel der Belegschaft entlassen und die meisten Tochtergesellschaften von CM zum Bodenwert veräußert hatte.
Ich fühlte mich ein bisschen wie jemand, der in einen Hinterhalt geraten ist.
Die Arbeitslosigkeit war hoch in diesem Jahr. Die Oglalla-Krise und der Zusammenbruch der asiatischen Wirtschaft hatten eine Menge Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen. Fünf Häuserblocks weiter, gleich hier am Fluss, gab es eine Zeltstadt. Ich sah mich schon da hausen.
Ich sagte: »Setzen Sie das Team in Kenntnis oder soll ich das übernehmen?«
Mein Team arbeitete an Software, die Marktprognosen erlaubte, eine von CMs lukrativeren Produktlinien. Es ging insbesondere darum, in Applikationen, die Verbraucherverhalten und Preisentwicklung modellierten, echte statt empfundener Zufälligkeit zu implementieren.