Krieg der Ahnen 2
Richard A. Knaak
Die Dämonenseele
Für Thomas „Sonny“ Garrett, erfolgreicher Autor und Freund.
1
Während er sich durch die große Höhle bewegte, wisperten die Stimmen in seinem Kopf. Anfangs hatten sie nur gelegentlich gesprochen, jetzt schwiegen sie gar nicht mehr. Selbst im Schlaf konnte der gewaltige schwarze Drache ihnen nicht entkommen, und er hatte sie nun schon so lange ertragen, dass sie zu einem Teil seiner Selbst geworden waren, unzertrennlich verbunden mit seinen eigenen wirren Gedanken.
Die Nachtelfen werden die Welt zerstören…
Die Quelle ist außer Kontrolle geraten…
Du kannst niemandem trauen… sie wollen deine Geheimnisse, deine Macht…
Malygos will an sich reißen, was dir gehört…
Alexstrasza will dich beherrschen…
Sie sind nicht besser als die Dämonen…
Du musst sie bezwingen wie Dämonen…
Ständig wiederholten die Stimmen ihre düsteren Prophezeiungen, warnten ihn vor Doppelzüngigkeit und Verrat. Er konnte nur noch sich selbst trauen. Die anderen hatten sich von den niederen Völkern beflecken lassen. Sie würden seine Entscheidung als Gefahr betrachten – nicht als das, was sie war: die einzige Hoffnung, die der Welt noch blieb. Der Drache stieß eine Wolke aus giftigem Rauch aus. Schnaufend dachte er an den Verrat derer, die einst seine Kameraden gewesen waren. Zwar verfügte er über die Macht, um alles zu retten, aber er musste vorsichtig sein; wenn sie die Wahrheit zu früh entdeckten, konnte es zur Katastrophe kommen.
Sie dürfen das Geheimnis erst erfahren, wenn sich nichts mehr daran ändern lässt, dachte er. Ich kann es erst offenbaren, wenn der Zauber gewoben ist. Ich werde nicht zulassen, dass sie meine Arbeit vernichten!
Die gewaltigen Klauen des geschuppten Giganten zerkratzten den Felsboden, als er sein Allerheiligstes betrat. Trotz seiner Größe wirkte der Riese winzig in dem Gewölbe. Durch die Mitte floss ein Lavastrom. Kristall Strukturen säumten die Wände. Große Stalaktiten hingen wie Schwerter des Schreckens von oben herab. Stalagmiten reckten sich aus dem Boden empor. Sie waren scharf und spitz, so als warteten sie nur auf ein Opfer, um es aufzuspießen.
Bei einem war das tatsächlich der Fall.
Mit gebleckten Zähnen blickte der große schwarze Drache auf die winzige Gestalt, die sich zu befreien versuchte, obwohl ein steinerner Speer ihre schwer atmende Brust durchbohrt hatte. Die Überreste eines zerrissenen, schwarzroten Gewandes und die Fragmente einer reich verzierten Goldrüstung hingen an dem seltsam geformten Körper des Unglückseligen. Dünne, ziegenartige Hörner ragten aus seinem Schädel empor. Das dunkelrote Gesicht war lang gezogen, der Mund breit und voller spitzer Zähne. Die Augen waren dunkle Abgründe, die sofort versuchten, den Drachen in ihren Bann zu ziehen, aber sie waren machtlos gegen den Willen ihres Wärters.
Die gehörnte Gestalt war nicht nur aufgespießt worden, man hatte sie zusätzlich mit schweren Eisenketten an den Höhlenboden gekettet. Die Eisen saßen fest. Sie drückten den Dämon gegen den Stalagmit und zogen seine Gliedmaßen nach unten.
Der Mund des Gefangenen bewegte sich unablässig. Er brüllte wütend, aber es war kein Laut zu hören. Trotzdem versuchte er es, als er den schwarzen Leviathan näher kommen sah.
Der Drache betrachtete seinen Gefangen für einen Moment, dann blinzelte er.
Sofort hallte die raue, verschlagen klingende Stimme der Kreatur durch die Höhle. „Das ist Sargeras! Dein Blut wird fließen! Er wird deine Haut wie einen Mantel tragen! Dein Fleisch wird er seinen Hunden verfüttern! Deine Seele wird er in einem Glaskolben aufbewahren, damit er sie quälen kann, wann immer es ihm beliebt! Er – “
Der Drache blinzelte erneut und brachte seinen Gefangenen wieder zum Schweigen. Die dämonische Gestalt schrie ihm trotzdem stumme Drohungen und Beleidigungen entgegen, bis der schwarze Leviathan schließlich seine mächtigen Kiefer öffnete und ausatmete. Eine heiße Dampfwolke hüllte den Gefangenen ein. Die Gestalt schüttelte sich voller Schmerzen.
„Du wirst Respekt lernen. Du hältst dich in der Gegenwart des ruhmreichen Neltharion auf“, donnerte der Drache. „Ich bin der Erdwächter. Du wirst mir mit der Ehrfurcht begegnen, die mir gebührt.“
Der lange Reptilienschwanz des Dämons schlug gegen die Felsen. Er öffnete den Mund und stieß weitere stumme Flüche hervor.
Neltharion schüttelte den Kopf. Er hatte mehr von dem Eredar erwartet. Diese Hexenmeister gehörten angeblich zu den Anführern der Brennenden Legion.
Sie waren Dämonen, die nicht nur Zauber weben konnten, sondern sich auch auf Kriegstaktiken verstanden. Der Drache hatte eine wesentlich intellektuellere Unterhaltung von solch einem Wesen erwartet, aber der Eredar hätte ebenso gut eine aggressive Höllenbestie sein können. Diese brennenden Moloche mit ihren Schädeln wurden als Rammböcke oder Geschosse eingesetzt. Die Höllenbestie, die er vor dem Eredar geprüft hatte, war kaum intelligenter als ein Stein gewesen.
Auf der anderen Seite hatte Neltharion seinen Clan auch nicht auf die Jagd nach Dämonen geschickt, weil er deren Konversationskünste schätzte. Nein, die Gefangenen erfüllten einen anderen Zweck, dienten einem hohen Ziel, das sie leider niemals zu schätzen wissen würden.
Der Eredar hier war gleichzeitig der Letzte und der Wichtigste. Durch seine besonderen magischen Fähigkeiten war er zur Schlüsselfigur im ersten Teil von Neltharions Plan geworden.
Es ist so weit… flüsterten die Stimmen. Es ist so weit…
„Ja“, antwortete der Erdwächter abwesend. „Es ist Zeit…“
Der Drache streckte seine gewaltige Pranke aus und konzentrierte sich. Eine goldene Aura bildete sich auf seiner Handfläche. Sie leuchtete so hell, dass sogar der gefangene Dämon seine Schreie unterbrach, um das Objekt zu betrachten, das Neltharion erschaffen hatte.
Es war eine winzige Scheibe, die ebenso golden wie die Aura war, die ihr Erscheinen angekündigt hatte. Abgesehen davon wirkte sie sehr schlicht. Sie war so winzig, dass sie selbst die Handfläche eines wesentlich kleineren Wesens – eines Nachtelfen beispielsweise – nicht ausgefüllt hätte.
Die Scheibe sah wie eine große ungeprägte Goldmünze aus, deren Ränder abgerundet und ohne Kratzer waren. Neltharion hatte absichtlich dafür gesorgt, dass sie so unspektakulär wirkte. Der Talisman konnte seine Aufgabe nur erfüllen, wenn er einen harmlosen Eindruck vermittelte.
Er richtete ihn auf den Eredar, damit sein Gefangener sehen konnte, was ihn erwartete. Der Dämon wirkte jedoch unbeeindruckt. Er betrachtete zuerst die Scheibe, dann den Drachen. In seinen Augen funkelte der Spott.
Neltharion bemerkte seine Reaktion. Es gefiel ihm, dass der Eredar die Stärke der Scheibe nicht erkannte. Das bedeutete, dass auch andere die Wahrheit erst begreifen würden, wenn es bereits zu spät war.
Der Erdwächter gab einen stummen Befehl, und die Scheibe schwebte langsam aus seiner Handfläche nach oben. Einen Moment lang verharrte sie dort, dann glitt sie auf den Gefangenen zu.
Auf dem monströsen Gesicht des Hexenmeisters waren zum ersten Mal Zweifel zu lesen. Als sich die Scheibe herabsenkte, begann er an seinen Ketten zu zerren.
Der goldene Talisman berührte die Stirn des Dämons. Ein roter Blitz hüllte dessen Gesicht ein, dann verband sich die Scheibe mit seinem Fleisch.
Sprich… drängten die Stimmen. Sag die Worte… vollende die Tat…
Das lippenlose Maul des Drachen stieß Worte in einer Sprache hervor, deren Ursprung jenseits der Welt der Sterblichen lag. In jedem Wort lag etwas so Böses, dass selbst der Dämon erschauderte. Für den Erdwächter klang es jedoch wundervoll, wie eine perfekte, harmonische Melodie… wie die Sprache der Götter.
Während Neltharion redete, begann die Scheibe zu leuchten. Ihr Licht erfüllte die gewaltige Grotte, wurde mit jeder Silbe heller und heller.