„Der anderen Völker?!“, stieß Malfurion hervor. Wenn Krasus ihn von Anfang an gefragt hätte, wie groß seine Erfolgschancen waren, hätte der junge Nachtelf sofort versucht, ihn von diesem Vorschlag abzubringen. Obwohl Kalimdor belagert wurde und Hunderte bereits gestorben waren, hätte sich kein Lord so sehr erniedrigt, Fremde um Hilfe zu bitten. Für die meisten Nachtelfen waren Zwerge und ähnliche Wesen beinahe Ungeziefer.
„Ja… und ich entnehme deiner Mimik, dass es auch sinnlos wäre, ihn später darauf anzusprechen.“
„Weißt du noch, wie schwierig es bei uns war, die Zwerge, Orcs, Elfen und Menschen von einer Zusammenarbeit zu überzeugen?“, fragte Rhonin. „Ganz zu schweigen von den Problemen, die es mit den einzelnen Fraktionen und Königreichen innerhalb der Völker gab.“
Krasus nickte müde. „Sogar mein eigenes Volk ist nicht frei von Vorurteilen.“
Noch nie war Malfurion der Frage, wer Krasus eigentlich war, so nahe gewesen, aber er hakte nicht nach. Seine Neugier über die Identität seines Verbündeten war unbedeutend im Angesicht der Katastrophe, der sie entgegensahen.
„Ihr habt ihnen nichts von der Abreise des Drachen erzählt“, sagte er stattdessen zu Krasus.
„Lord Ravencrest weiß Bescheid. Ich habe ihm eine Nachricht geschickt, als Korialstrasz mir seine Entscheidung mitteilte.“
Rhonin runzelte die Stirn. „Du hättest Korialstrasz nicht gehen lassen sollen.“
„Er teilt meine Sorge über die Drachen. Das solltest du auch.“ Eine stumme Unterhaltung fand zwischen den beiden Zauberern statt, die Rhonin schließlich mit einem Nicken beendete.
„Was sollen wir machen?“, fragte Brox. „Sollen wir mit den Nachtelfen kämpfen?“
„Wir haben keine andere Wahl“, antwortete Rhonin vor Krasus. „Wir sind hier gefangen. Die Dinge sind so kompliziert geworden, dass wir eine aktivere Rolle einnehmen müssen.“ Er blickte dem älteren Magier tief in die Augen. „Wir können nicht einfach zusehen.“
„Nein, das können wir nicht. Dazu ist es bereits zu spät. Außerdem habe ich nicht vor, auf meine Attentäter zu warten. Ich werde mich zur Wehr setzen.“
Rhonin nickte. „Dann sind wir uns einig.“
Malfurion verstand nicht alles, was gesagt wurde, aber er erkannte, dass er das Ende eines langen, schwierigen Disputs beobachtete. Anscheinend war Krasus trotz der Unterstützung, die er den Nachtelfen gewährt hatte, nicht sicher, ob er ihnen wirklich helfen sollte. Das war paradox, fand der Druide, wenn man bedachte, wie leidenschaftlich Krasus darum gebeten hatte, Zwerge und Tauren zu Verbündeten zu machen.
Erst dann fiel ihm auf, dass sie beschlossen hatten, gemeinsam mit den Streitkräften gegen Zin-Azshari zu ziehen. Malfurion wusste, dass er noch mit einer Person sprechen musste, bevor das geschah. Er konnte Suramar erst verlassen, wenn er sie noch einmal gesehen hatte.
„Ich muss gehen“, sagte er den anderen. „Es… es gibt etwas, das ich noch erledigen muss.“
Seine Wangen mussten sich gerötet haben, denn Krasus nickte freundlich. „Bitte übermittle ihr meine Grüße.“
„Ich… natürlich.“
Doch als er an dem älteren Magier vorbeigehen wollte, griff dieser nach seinem Arm. „Wehre dich nicht zu sehr gegen deine Gefühle, mein Junge. Sie sind Teil deiner Berufung, deines Schicksals. Du wirst sie in den Tagen, die nun kommen, brauchen, vor allem, da er zweifellos hier eingetroffen ist.“
„Hier?“ Rhonin runzelte die Stirn. „Wer? Was verschweigst du uns?“
„Ich denke nur logisch, Rhonin. Du hast gesehen, dass der Dämon Mannoroth die Legion anführte, als sie die Stadt verließ. Du weißt, dass wir trotz seiner Anwesenheit das Portal destabilisieren und seinen Armeen großen Schaden zufügen konnten.“
„Wir haben Mannoroth geschlagen, das weiß ich. Das haben wir in… zu Hause auch geschafft.“
Krasus Augen’ verschleierten sich. Malfurion spürte, wie seine Sorge zunahm. „Dann solltest du auch noch wissen, was nach seiner Niederlage geschah.“
Der Nachtelf sah, wie Rhonin erbleichte. Brox war ebenfalls verstört, aber seine Reaktion entsprach der von Malfurion. Er wusste, dass etwas Unangenehmes enthüllt werden würde, er wusste nur nicht, was.
„Archimonde.“ Der Mensch flüsterte den Namen nur, als habe er Angst, sein Träger könne durch einen lauten Ruf angelockt werden.
„Archimonde“, wiederholte Brox verstehend. Er umklammerte den Griff seines Dolches. Seine Blicke irrten durch den Raum.
„Wer ist dieser… dieser Archimonde?“, fragte Malfurion. Der Name hinterließ einen schlechten Geschmack in seinem Mund.
Es war Rhonin, der ihm antwortete. Rhonin, dessen Augen leuchteten und dessen Lippen hasserfüllt verzerrt waren. „Er, der zur Rechten des Lords der Brennenden Legion sitzt.“
Captain Varo’then überbrachte seiner Königin wie immer die Neuigkeiten. Seit Lord Xavius’ Tod war er zu ihrem Liebling aufgestiegen… in mehr als nur einer Hinsicht. Seine neue Uniform – ein glitzerndes Grün mit goldenen Sonnenstrahlen auf der Brust – war das letzte Geschenk, das Azshara ihm überreicht hatte. Sein Rang war zwar immer noch der eines Captains, aber in Wirklichkeit befehligte er nicht nur Generäle, sondern sogar Dämonen.
Varo’then warf seinen glänzenden goldenen Umhang nach hinten, als er das Quartier seiner Königin betrat. Ihre Zofen verneigten sich tief und verließen dann den Raum.
Azshara selbst lag auf einem silberfarbenen Sofa, den Kopf auf ein kleines Kissen gebettet. Ihr Haar, das noch silberner als das Sofa leuchtete, floss über ihren Nacken, ihre Schultern und ihren Rücken. Die Königin hatte mandelförmige Augen aus reinem Gold und ebenmäßige Gesichtszüge. Die Robe, die sie trug, leuchtete blau und brachte ihre perfekten Formen wunderbar zur Geltung.
In einer Hand hielt Azshara einen Blickglobus, ein magisches Kunstwerk, auf dem man Tausende von exotischen Bildern betrachten konnte. Das Bild, das sich gerade auflöste, als der Soldat niederkniete, schien Azshara selbst darzustellen, aber Varo’then war sich nicht sicher.
„Ja, mein lieber Captain?“
Varo’then hoffte, dass seine Wangen nicht vor Leidenschaft erröteten. „Licht des Mondes, Blume des Lebens, ich bringe wichtige Nachrichten. Der Großmächtige, Sargeras – “
Sie setzte sich augenblicklich auf. Ihre Augen weiteten sich. „Er ist hier?“, fragte die Königin.
Ein Moment der Eifersucht griff nach dem Captain. „Nein, Licht aller Lichter. Das Portal ist noch nicht groß genug, um den Großmächtigen in all seiner Herrlichkeit aufzunehmen… aber er hat seinen engsten Vertrauten zu uns gesandt, um ihm den Weg zu ebnen.“
„Dann muss ich ihn begrüßen!“, erklärte Azshara und erhob sich. Zofen liefen aus ihren Verstecken, um die lange Schärpe der Königin zu tragen. Der Rock war so geschnitten, dass er die langen, glatten Beine der Königin beim Gehen freigab. Azshara war die personifizierte Verführung. Varo’then wusste zwar, dass sie nur mit ihm spielte, aber das interessierte ihn nicht.
In dem Moment, in dem sie sich bewegte, traten andere Gestalten aus den Schatten. Trotz ihrer gewaltigen Größe waren die Teufelswächter, die als persönliche Leibwache der Königin dienten, vorher nicht zu sehen gewesen. Zwei traten vor, der Rest blieb hinter ihnen. Die Dämonen warteten geduldig und ausdruckslos auf die nächste Bewegung ihrer Königin.
Varo’then winkelte seinen gepanzerten Arm an, und Azshara legte ihre perfekten Finger darauf. Er führte sie durch die bunt gestrichenen Marmorhallen des Palasts zu dem Turm, wo die überlebenden hochwohlgeborenen Priester ihre Bemühungen wieder aufgenommen hatten. Elfische und dämonische Wächter nahmen Haltung an, wenn sie an ihnen vorbeischritten. Varo’then hatte sich ausgiebig mit der Legion beschäftigt und wusste, dass die Schönheit der Königin zwar weder von Mannoroth, noch von Hakkar wahrgenommen wurde, wohl aber von den niederen Dämonen. Ihre Leibwache hatte sogar begonnen, andere ihrer Art mit Misstrauen und Eifersucht zu betrachten.