„Sargeras sieht sehr viel Potenzial in Euch, Captain Varo’then. Er betrachtet Euch als jemanden, der zu seinen besten Dienern zählen könnte, als jemanden, der den gleichen Rang erlangen könnte wie Mannoroth, nein… wie Archimonde.“
Varo’then stellte sich vor, wie er an der Spitze eines gewaltigen dämonischen Heers mit erhobenem Schwert den Feinden entgegen ritt. Er konnte den Stolz und die Zuneigung Sargeras’ beinahe spüren, als er all die vernichtete, die sich dem Großmächtigen widersetzten.
„Ich fühle mich geehrt“, murmelte der Soldat.
Xavius lächelte. „Das tun wir alle… und wir würden ihm auf alle möglichen Weisen dienen, wenn unser Traum dadurch schneller wahr würde, nicht wahr?“
„Natürlich.“
Der Pferdefußige kam näher. Sein Gesicht berührte beinahe das des Captains. Die Augen zogen Varo’then weiter in ihren Bann, faszinierten und verstörten ihn in gleichem Maße. „Du könntest ihm auf eine Weise dienen, die dir angemessener ist und die dich schneller der Position nahe bringen würde, auf die du hoffst…“
Der Offizier spürte, wie ihn Erregung durchströmte. Erneut stellte er sich vor, wie es sein würde, wenn er die Armeen der Königin und Sargeras’ Dämonen anführte. Von Sieg zu Sieg würde er reiten und das Blut seiner Feinde würde fließen, bis es zu einem reißenden Strom wurde.
Doch als Varo’then sich in dieser Rolle vorstellte, bemerkte er, dass er sich selbst nicht richtig erkennen konnte. Er versuchte, sich als gepanzerten und bewaffneten Krieger zu sehen, so wie es sie in den alten Geschichten gegeben hatte… doch eine andere Gestalt schob sich immer wieder über dieses Bild.
Eine Gestalt, die aussah wie Lord Xavius.
Mit diesem Gedanken befreite er sich aus dem Blick des Beraters. „Vergebt mir, Mylord, aber ich muss meinen Pflichten nachgehen.“
Die künstlichen Augen funkelten für einen Moment, dann nickte Xavius höflich und forderte den Soldaten mit einer Handbewegung auf, weiterzugehen. „Aber natürlich, Captain Varo’then, natürlich.“
Varo’then stapfte schneller von dannen als er es eigentlich gewollt hatte. Er blickte nicht zurück. Seine Hand schloss sich um den Griff seines Schwertes, als wolle er es ziehen. Der Nachtelf wurde erst langsamer, als er sicher war, dass ihm Lord Xavius nicht weiter folgte.
Doch selbst dann konnte er immer noch die verführerischen Worte des Satyrs hören. Zwar war es ihm gelungen, ihnen zu widerstehen, doch andere würden diese Kraft nur schwerlich besitzen.
Als sich die Nacht über Lord Ravencrests Streitmacht senkte, mischten sich die Schwestern der Elune unter die Soldaten, um sie zu segnen. Obwohl ihre Kleidung sehr martialisch wirkte, brachten die Priesterinnern den Nachtelfen Frieden und Trost. Elune schenkte den Nachtelfen Stärke und Selbstvertrauen, denn sie war stets am Himmel und wachte über ihre Lieblingskinder.
Tyrande Whisperwind verriet niemandem, dass sie nicht den Frieden und die Stärke spürte, die sie anderen vermittelte. Die Hohepriesterin schien zu glauben, sie sei besonders reich von Mutter Mond beschenkt worden, aber Tyrande spürte nichts davon. Wenn Mutter Mond sie wirklich zu etwas Besonderem auserwählt hatte, behielt sie das für sich.
Der letzte Rest des Tageslichts floh hinter den Horizont. Tyrande beeilte sich, denn sie wusste, dass die Hörner, die den Abmarsch nach Zin-Azshari signalisierten, bald ertönen würden. Sie berührte das Herz eines weiteren Soldaten und ging dann zurück zu ihrem wartenden Panther.
Doch bevor sie ihn erreichte, trat ein anderer Nachtelf in ihren Weg. Instinktiv streckte Tyrande ihre Hand nach seiner Brust aus, doch er kam ihr zuvor und ergriff ihren Arm.
Die Priesterin sah auf, und im ersten Moment setzte ihr Herz vor Freude einen Schlag aus. Dann bemerkte sie die dunkle Uniform und den Pferdeschwanz. Vor allem aber bemerkte Tyrande die bernsteinfarbenen Augen.
„Illidan?“
„Deinen Segen nehme ich natürlich gern entgegen“, antwortete er grinsend, „aber deine Nähe spendet mir größeren Trost.“
Ihre Wangen erröteten, allerdings nicht aus dem Grund, den er vermutete. Malfurions Zwilling hielt ihren Arm auch weiterhin sanft fest, als er sich zu ihr beugte.
„Das muss Schicksal sein, Tyrande. Ich habe nach dir gesucht. Unsichere Zeiten kommen auf uns zu. Da muss man Entscheidungen treffen, ohne zu zögern.“
Sie ahnte plötzlich, was er sie fragen, nein, was er ihr sagen würde. Instinktiv zog Tyrande ihre Hand zurück.
Illidans Gesicht verhärtete sich. Ihm war ihre Reaktion und die Ursache dafür nicht entgangen.
„Es ist zu früh“, sagte sie, um seine Gefühle zu schonen.
„Oder zu spät?“ Das Grinsen kehrte auf sein Gesicht zurück, aber es wirkte so falsch wie eine Maske. Nach einem Moment entspannte sich Illidans Miene jedoch. „Ich war zu aufdringlich. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Du hast dich um zu viele kümmern müssen. Ich werde noch einmal mit dir sprechen, wenn die Gelegenheit günstiger ist.“
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging zu der berittenen Wache, die hinter ihm wartete und seinen Nachtsäbler am Zügel hielt. Illidan blickte nicht zurück, als er aufstieg und wegritt.
Die Begegnung hatte Tyrandes Sorge nur noch verstärkt. Sie wollte gerade auf ihren Panther steigen, als eine weitere, allerdings willkommenere Gestalt ihre Gedanken unterbrach.
„Schamanin, vergib mir die Störung.“
Lächelnd begrüßte sie den Orc. „Du bist stets willkommen, Broxigar.“
Außer ihr durfte ihn niemand mit seinem vollständigen Namen anreden. Alle anderen, sogar Lord Ravencrest, riefen ihn einfach nur Brox. Der breit gebaute Orc war einen Kopf kleiner als sie, aber dreimal so breit. Fast sein gesamter Körper schien aus Muskeln zu bestehen. Im Kampf warf er sich den Feinden mit der gleichen Wildheit wie die großen Nachtsäbler entgegen, aber in Tyrandes Gegenwart zeigte er mehr Respekt als manch anderer, der um ihren Segen bat.
Sie dachte, der Orc wünsche ihren Segen, also legte sie ihre Hand auf seine Brust. Er sah sie überrascht an, hieß ihre Berührung dann jedoch willkommen.
„Möge Mutter Mond deinen Geist führen, möge sie dir Stärke geben…“ Sie fuhr einige Sekunden lang fort und gab dem Orc ihren vollständigen Segen. Die meisten Priesterinnen und auch die gewöhnlichen Nachtelfen fanden ihn abstoßend, aber für Tyrande war er ebenso ein Kind von Mutter Mond wie sie selbst.
Als sie geendet hatte, neigte Brox dankbar seinen Kopf. Dann murmelte er: „Ich bin diesen Segen nicht wert, Schamanin, denn er ist nicht der Grund, aus dem ich gekommen bin.“
„Nicht?“
Das breite Gesicht verzog sich zu etwas, das Tyrande als Reue deutete. „Schamanin, es gibt etwas, das mein Herz belastet. Etwas, das ich gestehen muss.“
„Sprich weiter.“
„Schamanin, ich habe nach dem Tod gesucht.“
Sie spitzte die Lippen, während sie versuchte, die Bedeutung seiner Worte zu verstehen. „Willst du mir sagen, dass du dich umbringen wolltest?“
Brox richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Sein Gesicht verdunkelte sich. „Ich bin ein Orc-Krieger! Ich habe meinen Dolch nicht gegen die eigene Brust gerichtet!“
Seine Wut verflog so schnell, wie sie gekommen war. Scham trat an ihre Stelle. „Aber ich habe versucht, die Waffen anderer dorthin zu locken.“
Damit war der Damm gebrochen, und die Geschichte floss förmlich aus ihm heraus. Brox erzählte ihr von seinem letzten Krieg gegen die Dämonen, wie er und seine Kameraden die Stellung gehalten und auf Verstärkung gewartet hatten. Tyrande erfuhr, dass ein Orc nach dem anderen getötet worden war, bis nur der Veteran übrig blieb. Der Heldenmut von Brox und den anderen hatte dafür gesorgt, dass die Orcs die Schlacht gewannen, aber trotzdem fühlte er sich schuldig, weil alle außer ihm gefallen waren.