Dann blitzte sie plötzlich auf.
Der Eredar-Hexenmeister öffnete seinen Mund in einem stummen Schrei. Sein Gesicht verzerrte sich. Aus seinen Augen liefen blutige Tränen, und sein Schwanz hämmerte wild gegen die Felsen. Er riss mit solcher Kraft an seinen Eisen, dass er das Fleisch an seinen Handgelenken und Knöcheln abschabte. Doch für den Dämon gab es kein Entrinnen.
Die Haut des Eredar begann zu verfaulen. Sie fiel von seinem aufgebäumten, gepeinigten Körper ab. Das Fleisch des Dämons wurde uralt und verwandelte sich in Asche.
Die Augen sanken in ihre Höhlen. Der Schwanz verdorrte. Der Hexenmeister zerfiel, bis nichts mehr übrig blieb außer seinen Knochen und den rasch verfaulenden Eingeweiden. Trotzdem schrie er immer weiter, denn Neltharion und die Scheibe hatten ihm noch nicht die Gnade des Todes gewährt.
Schließlich zerfielen sogar die Knochen. Der Kiefer klappte herab, die Rippen rollten auseinander. Mit grausamer Effizienz brachte die Macht, die von der Scheibe entfesselt worden war, die Überreste des Dämons zum Verschwinden. Von den Füßen aufwärts, über die Beine bis zum Oberkörper zerfiel er zu Staub, bis nur noch der Kopf übrig blieb.
Erst dann schwieg der Eredar.
Das Licht versiegte. Die Ketten, die eben noch den Dämon gehalten hatten, hingen leer am Fels.
Der schwarze Drache beugte sich wie ein stolzer Vater über den Talisman und entfernte ihn sanft mit nur zwei Klauen von dem Schädel, der sich im gleichen Moment in Asche verwandelte. Graues Pulver regnete zu Boden.
Beeindruckt betrachtete Neltharion sein Werk. Selbst er konnte die außergewöhnlichen Kräfte, die sich jetzt in der Scheibe befanden, nicht spüren, aber er wusste, dass sie da waren – und wenn die Zeit gekommen war, würden sie ihm zur Verfügung stehen.
Er hatte den Gedanken kaum beendet, als er eine neue Präsenz in seinem Geist spürte. Die Stimmen schwiegen abrupt, als hätten sie Angst, von dem Eindringling entdeckt zu werden. Der Erdwächter unterdrückte sofort seine geheimen Wünsche.
Neltharion kannte die Präsenz nur zu gut. Einst hatte er sie für eine Freundin gehalten. Heute wusste der dunkle Leviathan, dass er ihr auch nicht mehr vertrauen konnte als allen anderen.
Neltharion… ich muss mit dir sprechen…
Was ist dein Begehr, liebste Alexstrasza? Der Erdwächter sah sie in Gedanken vor sich, eine schlanke feuerfarbene Drachengestalt, die noch ein wenig imposanter wirkte als er selbst. Er verkörperte den Aspekt der unbelebten Welt, Alexstrasza repräsentierte das Leben, das auf ihr, in ihr und über ihr gedieh.
Erneut haben sich gefährliche Kräfte um den Palast der Nachtelfen-Königin versammelt… wir müssen bald eine Entscheidung treffen…
Hab keine Angst, antwortete Neltharion beruhigend. Es wird getan werden, was getan werden muss…
Ich hoffe, dass du Recht hast… Wann kannst du deine Reise zur Kammer antreten?
Der Erdwächter dachte an den von ihr genannten Ort, an die riesige Höhle, gegen die seine eigene eher dem Tunnel eines winzigen Wurms glich. Die niederen Drachen nannten sie respektvoll die Kammer der Aspekte. Sie war rund und vollkommen glatt, so als habe jemand in tiefster Vergangenheit – lange vor der Ankunft der Drachen – eine Kugel in Bewegung gesetzt, die jede Unebenheit und jeden Riss, den man sonst in Höhlen fand, glättete. Nozdormu, den alles Geschichtliche faszinierte, vertrat die Meinung, die Schöpfer der Welt hätten sie erschaffen, aber auch er konnte das nicht beweisen. Die Kammer verbarg sich hinter einem magischen Feld, das sie von der Welt der Sterblichen trennte. Kein Ort war sicherer und geschützter.
Bei diesem Gedanken zischte der schwarze Drache erwartungsvoll. Der Blick seiner roten Augen fiel wieder auf die Scheibe. Vielleicht sollte er jetzt dorthin begeben. Die anderen würden ebenfalls da sein. Es konnte gelingen…
Nein… noch nicht, sagten die Stimmen kaum hörbar in seinem Unterbewusstsein. Der Zeitpunkt muss richtig gewählt sein, sonst werden sie stehlen, was dein ist…
Das konnte Neltharion nicht zulassen. Zu dicht stand er vor seinem Triumph. Noch nicht, sagte er schließlich dem roten Drachen, aber bald… Ich verspreche, dass es bald so weit ist…
Das muss auch so sein, antwortete Alexstrasza. Ich fürchte, dass es nicht anders geht.
Sie verließ seine Gedanken so schnell, wie sie sie betreten hatte. Neltharion zögerte und fragte sich, ob er ihr vielleicht unabsichtlich einen Hinweis auf seine Pläne gegeben hatte. Die Stimmen beruhigten ihn jedoch. Er hatte nichts verraten. Er hatte sich genau richtig verhalten.
Noch einmal betrachtete der schwarze Drache die Scheibe, bevor er sie mit einem zufriedenen Blick aus glühenden Augen zurück an den Ort versetzte, wo er sie vor allen, sogar vor seinem eigenen Clan, verborgen hielt.
„Bald…“, flüsterte er mit einem breiten Grinsen. „Sehr bald. Das habe ich schließlich versprochen.“
Der mächtige Palast stand am Rande einer Bergkette, die sich über einem großen, unruhigen See erhob. Dessen Wasser war so dunkel, dass es vollkommen schwarz aussah. Bäume, die man auf magische Weise aus festen Stein geformt hatte, bildeten hohe, geschwungene Türme. Die gewaltigen Gebäude waren von Mauern aus Vulkangestein umgeben, und zusammen gehalten wurden sie von monströsen Lianen und Baumwurzeln. Hundert riesige Bäume hatten die Erbauer miteinander verflochten, um die Balken des Haupthauses zu erschaffen. Anschließend hatten sie das kuppelartige Gebäude mit Steinen und Lianen bedeckt.
Einst hatte jeder den Palast und seine Umgebung für eines der Weltwunder gehalten, doch das hatte sich vor allem in jüngerer Zeit geändert. Jetzt fehlte die obere Hälfte des ersten Turms, und nur die Ruß geschwärzten Steinfragmente und herabhängenden Lianen erzählten von der gewaltigen Explosion, die ihn zerfetzt hatte. Das allein hatte noch nicht gereicht, um den Palast in einen Ort der Alpträume zu verwandeln, doch der Anblick, der ihn an drei von vier Flanken – nur die Seeseite war unberührt geblieben – umgab, hatte dafür gesorgt.
Es war eine wundervolle Stadt gewesen, die Krone der Herrschaft der Nachtelfen. Sie hatte sich über die Landschaft ausgedehnt und war doch ein Teil von ihr geblieben. Die hohen Baumhäuser und großzügigen Anwesen hatten eine atemberaubende Kulisse für den Palast gebildet. Hier hatte man Zin-Azshari – „der Ruhm von Azshara“ – erbaut, die Hauptstadt der Nachtelfen. Hier hatte eine lebendige Metropole gestanden, deren Bewohner sich jeden Abend erhoben, um ihrer geliebten Königin die Ehrerbietung zu erweisen.
Und hier hatte sich, abgesehen von einigen wenigen abgetrennten Bereichen am Rande des Palasts, das größte Massaker Unschuldiger abgespielt, das die Welt je gesehen hatte.
Zin-Azshari lag in Trümmern. Das Blut der Opfer bedeckte immer noch die verbrannten Ruinen ihrer Behausungen. Die hoch aufragenden Baumhäuser waren zu Boden gerissen worden und die Hütten, die man in die Erde gegraben hatte, waren untergepflügt worden. Ein dichter grüner Nebel hing über der Alptraumlandschaft. Der Gestank des Todes lag in der Luft – Hunderte Leichen lagen unberührt und langsam verwesend zwischen den Ruinen. Es gab keine Aasfresser. Weder Krähen noch Ratten, nicht einmal Insekten nährten sich von den Leichen, denn auch sie waren entweder mit den wenigen Überlebenden geflohen oder bei dem Angriff umgekommen, der die Stadt vernichtet hatte.
Die zurückgebliebenen Bewohner von Zin-Azshari schienen das Blutbad nicht zu bemerken. Die großen schlaksigen Nachtelfen, die immer noch in der Stadt lebten, gingen ihren Aufgaben in und um dem Palast nach, als habe sich nichts verändert. Mit ihren extravaganten, vielfarbigen Gewändern und ihrer purpurdunklen Hautfarbe wirkten sie wie Besucher eines großen Fests. Sogar die grimmigen Wachsoldaten, die in ihren waldgrünen Rüstungen auf den Mauern und Türmen patrouillierten, wirkten deplatziert, denn sie blickten ohne jede Reaktion auf die Verwüstungen. In keinem Gesicht sah man auch nur einen Hauch von Erschütterung.