„Elune muss dich wahrhaft beschützt haben! So viele in deiner Nähe wurden zerrissen, sogar dein eigenes Reittier wurde bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt – aber du hast kaum einen Kratzer davongetragen.“
Zerrissen… sein Reittier verstümmelt… was war in seiner Umgebung geschehen? Wieso hatte er das Massaker nicht bemerkt? Wie hatte er den magischen Angriff überlebt? Der Gedanke an das Grauen, das sich unbemerkt von ihm abgespielt hatte, ließ ihn erschaudern.
Malfurion kannte die Antworten auf diese Fragen nicht, aber eines wusste er: Er hatte den Angriff eines Erzdämons überlebt. Auf der einen Seite konnte er für dieses Wunder dankbar sein, auf der anderen hatte Archimonde ihn jetzt zu seinem persönlichen Feind erklärt. Sie würden sich also Wiedersehen, so viel stand fest.
Und wenn dies geschah, würde der Dämonenlord wohl dafür sorgen, dass Malfurion nicht noch einmal flüchten konnte.
7
Pero’tharn trat gebückt in sein Privatquartier. Endlich fand er ein wenig Zeit, um sich von seiner Arbeit am Portal zu erholen. Bevor Archimonde das Kommando über die Dämonenarmee übernahm, hatte er einen genauen Plan aufgestellt, nach dem das Portal schrittweise geöffnet werden sollte. Mannoroth hatte die hochwohlgeborenen Zauberer förmlich zur Arbeit geprügelt, aber Archimonde hatte erkannt, dass die Nachtelfen nicht lange genug überleben würden, wenn er ihnen keine Zeit zum Essen und Schlafen ließ. Sie arbeiteten zwar auch jetzt noch sehr hart, aber durch die Pausen zeigten sich Erfolge, die es selbst unter Lord Xavius nicht gegeben hatte.
Als Pero’tharn an seinen ehemaligen Herrn dachte, blickte er instinktiv über die Schulter. Das Zimmer – eine kleine Kammer, in der nur ein Holzbett, ein Tisch und eine Öllampe standen – war voller Schatten, die den Zauberer an das Ding erinnerten, das hinter dem ruhmreichen Archimonde aus dem Portal getreten war. Dass diese zweibeinige Bestie einmal Xavius gewesen war, verstörte den Hochwohlgeborenen. Schon früher, als der Berater der Königin noch ein Nachtelf gewesen war, hatten sie alle in ständiger Furcht gelebt, aber jetzt verfolgte sein Anblick Pero’tharn sogar bis in die Träume.
Der Nachtelf schüttelte den Gedanken ab und betrachtete angewidert das Bett. Er war eine weit bessere Schlafstatt gewöhnt. Er sehnte sich nach seiner Villa und seiner Gefährtin, die er seit Tagen nicht gesehen hatte. Mannoroth hatte es niemandem erlaubt, den Palast zu verlassen, und Archimonde hatte diese Anweisung nicht aufgehoben. Deshalb mussten die Zauberer dort schlafen, wo ein Bett frei war – in den meisten Fällen waren das Kammern, die früher von Wachoffizieren benutzt worden waren. Captain Varo’then hatte den Zauberern diese Quartiere zur Verfügung gestellt, aber Pero’tharn hätte schwören können, das er dabei schadenfroh gelächelt hatte. Varo’then und seine Untergebenen waren an spartanische Unterkünfte gewöhnt, und Pero’tharn glaubte, dass es ihnen gefiel, die Hochwohlgeborenen in der gleichen Situation zu sehen.
Doch all die Entbehrungen würden belohnt werden, wenn der Herrscher der Legion eintraf. Die Welt würde von den Unreinen gesäubert werden. Nur die Hochwohlgeborenen, die perfektesten Diener Azsharas würden übrig bleiben. Pero’tharn und die anderen würden ein frisches, neues Land bewohnen und ein Paradies erschaffen, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte.
Natürlich lag bis dahin ein weiter Weg vor ihnen. Die Königin hatte ihnen erklärt, dass die Brennende Legion zuerst alles vernichten musste. Die Welt musste neu erschaffen werden. Es wurde noch einiges von den Hochwohlgeborenen erwartet, aber ihre Belohnung würde all das wett machen.
Mit dem Seufzen eines Märtyrers setzte sich Pero’tharn auf das harte Bett. Wenn sie das Paradies erschaffen hatten, würde er als erstes um eine bessere Schlafgelegenheit bitten.
Er hatte seinen Kopf noch nicht ganz auf das graue, kleine Kissen gelegt, als eine Stimme in sein Ohr flüsterte.
„So viele Opfer…so viele unverdiente Entbehrungen…“
Pero’tharn setzte sich erschrocken auf. Er sah sich in der Kammer um, fand aber nichts außer den schrecklich leeren Wänden und den spärlichen Möbeln.
„ Man zwingt dich, wie ein Bauer zu leben… man sollte dich bewundern, Pero‘tharn.“
Ein Schatten löste sich aus der Wand, und der Hochwohlgeborene zog scharf den Atem ein. Künstliche Augen starrten den überraschten Zauberer an.
„Xavius…“
Die Hufe des Satyrs klapperten leise auf dem Steinboden. „Unter diesem Namen habe ich einst gelebt“, murmelte er, nun lauter und zugleich etwas weltlicher klingend. „Das hat heute kaum noch Bedeutung für mich.“
„Was macht Ihr hier?“
Xavius kicherte. Es klang, als würde er wiehern. „Ich kenne deinen Ehrgeiz, Pero’tharn. Ich kenne deine Träume und weiß, wie hart du für sie kämpfst.“
Obwohl der Nachtelf dem Pferdefußigen misstraute, fühlte er sich geschmeichelt. Niemand sonst schien zu verstehen, wie viel er beitrug. Sogar Archimonde und die Königin unterschätzten seine Leistung.
„Ich habe dich hart angetrieben, mein Freund, weil ich Großes von dir erwarte.“
Pero’tharn hatte das nicht gewusst, aber die späte Erkenntnis ließ Stolz in seiner Brust aufwallen. Lord Xavius war stets die Messlatte gewesen, an der die Hochwohlgeborenen ihre Fähigkeiten beurteilten. Er war der unerreichte Meister seiner Kunst gewesen. Wer sonst würde seine eigenen Augen opfern, nur um die Mächte, die er beschwor, besser verstehen zu können. Der Berater hatte von anderen nie ein Opfer erwartet, zu dem er nicht selbst bereit gewesen wäre.
„Ich… ich fühle mich geehrt.“
Der gehörnte Satyr neigte den Kopf und grinste. Aus irgendeinem Grund ängstigte dieses Grinsen Pero’tharn nicht so sehr wie vor diesem Gespräch.
„Nein… ich sollte mich geehrt fühlen, mein guter Pero’tharn… und ich bin in der Hoffnung zu dir gekommen, eine noch größere Ehre zu erfahren.“
„Ich verstehe nicht, was Ihr meint.“
„Ein wenig Wein?“ Der Pferdefußige zauberte eine Flasche aus dem Nichts herbei und bot sie dem Nachtelf an. Pero’tharn öffnete sie und roch vorsichtig daran. Das schwere Bouquet kitzelte seine Sinne. Es war Regenbogenblumenwein, sein Lieblingsgetränk.
Xavius beugte sich vor. „Aus ihrem eigenen Keller…“, sagte er verschwörerisch. „Aber dieses Geheimnis bleibt unter uns, nicht wahr?“
Im ersten Moment war der Magier schockiert, dass jemand es gewagt hatte, Azshara zu bestehlen, dann aber begeisterte ihn diese Dreistigkeit. Xavius hatte seine Königin hintergangen, um ihm, Pero’tharn, einen Gefallen zu erweisen. Azshara hatte Diener schon für geringere Vergehen hinrichten lassen.
„Captain Varo’then wäre entsetzt, wenn er davon wüsste“, sagte Pero’tharn.
„Er gehört nicht zu uns und hat deshalb keine Bedeutung.“
„Das stimmt.“ Die Hochwohlgeborenen betrachteten den Captain und seine Soldaten als notwendiges Übel. Natürlich waren sie Diener der Königin, aber ihnen fehlte das adlige Blut und das extravagante Auftreten der anderen. Für die meisten Hochwohlgeborenen waren sie nicht besser als die Nachtelfen, die einst außerhalb der Palastmauern gelebt hatten. Doch diese Meinung verbargen sie stets, denn Captain Varo’then wusste, wie man Hochwohlgeborene unauffällig verschwinden ließ.
„Trink“, drängte Xavius und hielt die Flasche hoch.
Der Flaschenhals berührte schon fast Pero’tharns Lippen, und er sah keinen Grund, noch länger zu zögern. Er spürte, wie sich die sanfte Flüssigkeit auf seiner Zunge verteilte und in seine Kehle floss. Sein ganzer Körper erschauderte, als er das seltene Getränk herunterschluckte.
„Eine längst fällige Belohnung“, sagte Xavius. „Eine von vielen.“
„Wundervoll.“
Der Pferdefüßige nickte. Je länger sich Pero’tharn mit Xavius unterhielt, desto weniger fürchtete er ihn. Der ehemalige Berater erwies ihm den Respekt, den er schon so lange verdient hatte. Das war eine große Ehre für den Nachtelf, denn Xavius war schließlich ein geschätzter Diener des großen Sargeras. Bedeutete er somit also dem Herrscher der Legion nicht mehr als alle Hochwohlgeborenen zusammen?