„Er beobachtet dich auch“, sagte der Satyr leise und verschwörerisch.
„Er? Meint Ihr etwa – “
„Er beobachtet alle, auch aus großer Ferne.“ Ein Zeigefinger richtete sich auf den Magier. „Aber einige beobachtet er intensiver als andere… in der Hoffnung, dass aus ihnen einmal Großes werden kann.“
Pero’tharn war sprachlos. Sargeras erwartete Großes von ihm? Er trank einen Schluck Wein, während seine Gedanken sich jagten. Wie die anderen ihn beneiden würden…
„Sargeras kennt keine Gnade gegenüber seinen Feinden, doch zu seinen besten Dienern ist er großzügig und mild.“ Xavius führte die Flasche wieder an Pero’tharns Lippen heran. „Er hat mich aus dem Jenseits zurückgeholt. Er holte mich zurück und schenkte mir nicht nur ein neues Leben, sondern auch einen ganz besonderen Platz an seiner Seite.“
Der Satyr richtete sich zu voller Größe auf und zeigte Pero’tharn seinen Körper. Der Nachtelf verstand erst jetzt, dass diese Gestalt ein großzügiges Geschenk des Gottes war und betrachtete sie bewundernd. Xavius war wahrhaft in diesem neuen Leben zu etwas Großem aufgestiegen. Sein Körper war breiter und beeindruckender. Xavius wirkte trotz der Hufe stärker und agiler. Auch sein Verständnis der magischen Künste war gewachsen. Pero’tharn spürte die Macht, die von ihm ausging und empfand Eifersucht. Eine solche Macht hatte er auch verdient!
Der Wein hatte Pero’tharn wohl unvorsichtig werden lassen, denn Xavius wich plötzlich zurück, als habe man ihn geschlagen. Der Satyr verschmolz fast mit den Schatten. Pero’tharn umklammerte die Flasche, befürchtete, den gesegneten Diener des Gottes beleidigt zu haben.
Doch Xavius kehrte so schnell wieder zurück, wie er verschwunden war. Der Satyr stand über ihm und starrte Pero’tharn an. Der Magier konnte seinen Blick nicht abwenden.
„Nein…“, flüsterte Xavius halb zu sich selbst. „Es ist noch zu früh… aber er hat gesagt, ich solle diejenigen finden, die würdig sind… vielleicht könnte ich… ja… aber um so viel Verantwortung zu tragen, braucht man Stärke und Entschlossenheit… Wäre es möglich, dass du über diese Entschlossenheit verfügst, Pero’tharn?“
Der Nachtelf sprang von seinem Bett auf und holte tief Luft. „Ich habe genau die Stärke und Entschlossenheit, die Ihr braucht! Ich würde alles tun, um von größerem Nutzen für Sargeras und meine Königin zu sein. Gebt mir die Chance zu beweisen, dass ich würdig bin. Ich flehe Euch an!“
„Du würdest einen gefährlichen Weg einschlagen, mein lieber Pero’tharn… aber du würdest dich über die anderen Hochwohlgeborenen erheben. Du würdest mir direkt unterstellt sein. Alle, die dich sehen, würden erkennen, dass du ein von Sargeras Gesegneter bist. Deine Macht würde um das Zehnfache wachsen. Alle würden dich beneiden, denn du wärst der Erste!“
„Ja!“, schrie der Nachtelf. „Ich würde alles dafür tun, Lord Xavius! Bitte wendet Euch nicht ab. Ich bin dieser Ehre würdig! Macht mir dieses Geschenk!“
Der Gehörnte grinste, ein Anblick, der Pero’tharn keine Angst mehr einflößte, sondern seine Hoffnung beflügelte. „Ja, mein lieber Pero’tharn… ich glaube dir. Ich glaube, dass du genügend Entschlossenheit besitzt, um zu einem seiner Vertrauten zu werden, so wie ich es geworden bin.“
„Das stimmt.“
„Deine Welt wird sich verändern… sie wird besser werden.“
Pero’tharn stellte die Flasche auf das Bett und kniete nieder. „Wenn ich hier und jetzt angenommen werden kann, dann bitte ich darum, dass dies geschieht. Bitte sagt mir, dass das möglich ist.“
Das Grinsen wurde breiter. „O ja, es kann jetzt geschehen.“
„Dann bitte ich Euch, Xavius… mache mich zu Deinesgleichen. Segne mich im Namen des Gottes, damit ich ihm noch besser dienen kann. Ich bin dessen würdig!“
„Wie du wünschst.“ Xavius trat einen Schritt zurück. Er schien größer zu werden, bis er Pero’tharns Sichtfeld völlig ausfüllte. Die rubinroten Schlieren in den Augen des Satyrs leuchteten auf.
Xavius hob seine Klauenhände.
Als der Zauber ihn traf, begann Pero’tharn zu schreien. Sein Körper schien bis auf die Knochen aufgerissen zu werden. Die Schmerzen waren jenseits seiner Vorstellungskraft. Tränen schossen in seine Augen. Er konnte nicht mehr sprechen, deshalb bettelte er mit Stöhnen um ein Ende der Qual. Das hatte er nicht gewollt.
„Nein“, antwortete der Satyr auf sein Flehen. „Wir müssen es beenden.“
Die Schreie wurden nach lauter, gellender. Die anderen Hochwohlgeborenen hätten das, was sich dort auf dem Boden krümmte, kaum noch erkannt. Der Körper mutierte ununterbrochen, wurde von Xavius’ Magie langsam zu dem umgeformt, was Pero’tharn sich wünschte. Aus Schreien wurde Schluchzen, doch der Satyr ließ sich nicht ablenken.
„Ja…“, sagte Xavius. Seine unheiligen Augen leuchteten. „Entfessle den Schmerz. Entfessle die Wut. Niemand wird dich außerhalb dieser Kammer hören. Du kannst so laut schreien, wie du willst… das habe ich auch getan.“ Sein Grinsen wurde wild und bestialisch. „Und es ist doch nur ein winzig kleines Opfer zum Ruhme Sargeras’.“
Die Nachtelfen hatten geglaubt, die Dämonen würden irgendwann rasten. Sie waren davon ausgegangen, dass sie sich in Suramar erst einmal sammeln und den Feind aufhalten würden. Und sie hatten sich auf eine sichere Unterkunft in der Festung Black Rook gefreut.
Alle drei Hoffnungen wurden enttäuscht. Rhonin und Krasus erkannten das lange vor Ravencrest und den anderen Nachtelfen. Sie wussten, dass Archimonde, der furchtbare Riese, für die Taktik der Legion verantwortlich war. Sargeras hatte ihm das Kommando nicht grundlos überlassen.
„Er wird uns keine Ruhe gönnen“, sprach der Drachenmagier aus, was beide dachten. Geistesabwesend berührte er die Drachenschuppe auf seiner Brust. Seine Gedanken kreisten um Archimondes gnadenlose Aufholjagd.
„Er wird die Dämonen eher in den Tod treiben, als uns entkommen lassen“, stimmte Rhonin zu. „Aber wir werden lange vor ihnen zusammenbrechen.“
Die Nachtelfen hatten vergeblich versucht, den Feind in Suramar aufzuhalten. Den Verteidigern in der Festung war nicht genügend Zeit geblieben, um sich auf den Einzug des Heers vorzubereiten. Black Rook Hold war gerade groß genug, um die Bevölkerung aus der Gegend aufzunehmen. Ravencrests riesige Streitmacht hätte dort keinen Platz mehr gefunden. Auch die Hoffnung des Adligen, die Festung wenigstens sichern zu können, zerschlug sich. Sie hatten noch nicht einmal genug Zeit, um in die Festung einzuziehen. Die Soldaten hielten den Feind so lange auf, bis alle Zivilisten in die Festung geflohen waren. Mehr erreichten sie nicht. Sie konnten Black Rook nicht sichern, und Ravencrest war ehrenhaft genug, sich dort nicht zu verstecken, während die Brennende Legion alles um ihn her zerstörte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass die Festung einmal so nutzlos sein würde“, knurrte er an Illidan gewandt. „Aber trotz aller Verluste ist unsere Streitmacht zu groß. Außerdem würden die Dämonen alles um die Festung herum vernichten und uns dann aushungern.“
„Können wir eine Belagerung nicht aussitzen?“
„Ja, gegen einen anderen Feind, der irgendwann müde wird und sich zurückzieht, aber nicht gegen die Dämonen. Sie würden einfach alles zerstören und auf das Unvermeidliche warten.“
Der bärtige Nachtelf schüttelte den Kopf. „Unser Ende soll nicht so würdelos sein!“
Nach nur einem Tag überließen sie Suramar dem Feind. Sie wussten, dass es bei ihrer Rückkehr dort nichts mehr geben würde – sollte es ihnen doch noch gelingen, die Brennende Legion zu schlagen. Wo die Dämonen auftauchten, hinterließen sie Ruinen. Als die letzten Gebäude der Stadt am Horizont verschwanden, sahen die Verteidiger bereits die ersten Bäume fallen und die Mauern unter dem Ansturm der Dämonen bröckeln.