Die meisten Clans hatten ihren Beitrag bereits geleistet. Nur noch zwei waren übrig. Korialstrasz war der Letzte.
Aus irgendeinem Grund fühlte er sich nicht sonderlich geehrt.
Vor Korialstrasz musste jedoch die Essenz des Zeitlosen nach vorne gebracht werden. Saridormi, die erste Gefährtin des Aspekts, trug das Stundenglas vorsichtig zur Drachenseele.
Neltharions magische Scheibe schwebte mitten in der Kammer. Ihre einfache Form leuchtete Furcht einflößend und zugleich majestätisch. Die Drachen wurden in den Farben des Regenbogens angestrahlt, und es war wohl kein Zufall, dass der Farbton zu den einzelnen Clans passte.
„Ich trete vor euch für den, der ohne Ende ist, ihn, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sieht“, verkündete Saridormi. Sie hob das glitzernde Stundenglas über die leuchtende Scheibe. „In seinem Namen gebe ich dieser Waffe seine Stärke, seine Macht, sein Ich, auf dass wir uns den Feinden stellen können, die unser Reich bedrohen.“
Mit einem leichten Druck ihrer kräftigen Tatzen zerbrach sie das Stundenglas.
Der Sand, der die Essenz Nozdormus bildete, rieselte nicht zu Boden, wie Korialstrasz vermutet hätte. Stattdessen schwebte er hinaus – wie ein lebendiges Wesen – und begann, sich über der Drachenseele zu drehen. Einzelne Bronzesprenkel fielen der Scheibe entgegen. Jedes Partikel schlug mit einem gleißend hellen Blitz auf, bevor es verschwand.
Als das letzte Sandkorn aufschlug, leuchtete die Kammer so hell auf, dass sich Korialstrasz geblendet abwenden musste. Als das Lieht nachließ und er die Augen wieder öffnete, bemerkte der rote Drache, dass sich alle anderen, sogar die Grünen, abgewandt hatten. Einzig Neltharion schien den ganzen Vorgang beobachtet, ja, sogar gierig aufgesogen zu haben.
„Mein Geliebter“, flüsterte Alexstrasza.
Korialstrasz wusste nicht, woher das schlechte Gefühl rührte, mit dem er vortrat. Am liebsten hätte er der Drachenseele seine Essenz verweigert, doch seine Königin hatte jeden ihrer Gefährten darum gebeten. Er konnte nicht als Einziger ablehnen. Trotzdem betrachtete er den Talisman misstrauisch, so als trüge er nicht die Rettung der Welt in sich, sondern deren Vernichtung.
Das ist dumm von mir, dachte er. Aus welchem Grund sollte der Erdwächter etwas so Schreckliches planen?
Die Drachenseele schwebte jetzt direkt vor ihm. Aus dieser Nähe konnte Korialstrasz nichts Bemerkenswertes daran erkennen. Dabei enthielt sie eine Macht, nach der sich viele in der Vergangenheit bereits gesehnt hatten und nach der sich viele in der Zukunft noch sehen würden. In ihr befand sie die Essenz aller Drachen, der mächtigsten Wesen dieser Welt.
„Sie wartet auf dich.“
Der rote Drache sah den Schwarzen an. Neltharion blinzelte nicht. Sein Atem kam stoßweise, wurde hektischer. Er schien mit jeder Sekunde, die Korialstrasz zögerte, nervöser zu werden.
Etwas stimmt hier nicht… dachte Alexstraszas Gefährte. Doch dann erinnerte er sich daran, dass sie, Malygos und Ysera freiwillig einen Teil ihrer selbst gegeben hatten. Malygos hatte sogar darauf bestanden, als Erster dieses Opfer zu bringen. Damit hatte er seinen Freund unterstützen wollen. Wenn der Meister der Magie Neltharion traute, hatte Korialstrasz dann überhaupt das Recht zu zweifeln?
Der Gedanke lastete noch über ihm, als sich der Rote der Drachenseele öffnete.
Die Scheibe leuchtete auf und tauchte ihn in helles Licht. Korialstrasz reckte seine Brust vor und zwang sich, all die magischen Schutzwälle aufzulösen, mit denen Drachen sich umgaben. Er spürte, wie die Drachenseele nach ihm griff, so wie sie auch nach den anderen gegriffen hatte. Seine gepanzerte Haut schien nur Illusion zu sein.
Sekunden später kehrte die mächtige Drachenseele aus seiner Brust zurück. Sie zog etwas mit sich, ein sich windendes kleines Ding, das halb aus Licht und halb aus Materie zu bestehen schien. Es war von einer rötlichen Aura umgeben. Als es sich von Korialstrasz trennte, spürte er einen Verlust, der ihn traurig stimmte.
Der Rote sah beunruhigt zu, wie die Drachenseele ihr Opfer an sich heranzog. Langsam kehrte das Licht in die Scheibe zurück.
Als die Substanz, die sie mitgenommen hatte, dem Licht folgte, stieß Korialstrasz die Luft aus. Er wollte die Hand ausstrecken und zurückholen, was ihm gehörte, aber das ging nicht. Er hätte alles zerstört und, schlimmer noch, seine geliebte Alexstrasza entehrt.
Und so sah Korialstrasz hilflos zu, wie die Drachenseele seine Essenz absorbierte und mit den anderen verband. Er sah hilflos zu, als Neltharion die Scheibe beinahe gierig aus der Luft riss und vor den Drachen emporhielt.
„Es ist vollbracht“, verkündete der Erdwächter. „Alle haben gegeben, was zu geben war. Ich werde jetzt die Drachenseele versiegeln, damit ihr Inneres niemals verloren geht.“
Neltharion schloss die Augen. Eine düstere schwarze Aura umgab seinen Körper, löste sich und floss zu dem mächtigen Talisman in seiner Tatze.
Die anderen Drachen sahen überrascht auf. Einen kurzen Moment lang leuchtete die Drachenseele im tiefschwarzem Licht ihres Erschaffers.
„Soll dies so sein?“, fragte Ysera leise.
„Ja, damit sie so ist, wie sie sein soll“, antwortete Neltharion beinahe schnippisch.
„Es ist eine Waffe wie keine andere. Sie muss sein wie keine andere“, fügte der weise Malygos hinzu.
Der Erdwächter stimmte dem blauen Drachen nickend zu. Dann sah sich Neltharion in der Kammer um und wartete auf Fragen. Korialstrasz fielen einige ein, aber da seine Königin mit dem Verlauf der Ereignisse zufrieden zu sein schien, wagte er es nicht, sie zu stellen.
„Der letzte Zauber wird Zeit benötigen“, sagte der schwarze Drache. „Die Scheibe wird an einen Ort der Stille und der Zurückgezogenheit gebracht, wo der schwierige Zauber gewoben werden kann.“
„Wann?“, fragte Alexstrasza. „Es darf nicht zu lange dauern.“
„Sie wird fertig sein, wenn sie fertig sein muss.“ Mit diesen Worten breitete Neltharion seine Flügel aus und stieg in die Lüfte. Seine Gefährtinnen folgten ihm ungefragt, wie Marionetten, die mit dem Erdwächter verbunden waren.
Die anderen Drachen sahen ihm nach, als er durch die scheinbar steinerne Wand der Kammer verschwand, und hoben ebenfalls ab. Alexstrasza blieb zurück, also tat Korialstrasz das Gleiche.
Sein Blick folgte den abfliegenden Drachen, während seine Gedanken um das kreisten, was sie heute vollbracht hatten. Eine furchtbare Macht steckte in der kleinen goldenen Scheibe. Neltharion hatte tatsächlich eine Waffe erschaffen, gegen die selbst endlose Dämonenhorden nicht bestehen konnten.
Oder Drachen…
8
Malfurion träumte. Er träumte davon, mit Tyrande in einem wunderschönen Baumhaus mitten in Suramar zu leben. Es war die schönste Zeit des Jahres, und alles blühte. Üppige Pflanzen bedeckten die Landschaft wie ein Teppich. Der riesige Baum schützte sie mit seinen ausladenden Ästen vor der Sonne, und Blumen in allen Farben und Formen wuchsen rund um seinen Stamm.
Tyrande, die ein wunderschönes mehrfarbiges Kleid trug, spielte auf einer silbernen Leier, während ihre Kinder, ein Junge und ein Mädchen, lachend und kichernd um den Baum liefen. Malfurion saß in der Nähe des Fensters, atmete die frische Luft tief ein und genoss das Leben, das er sich aufgebaut hatte. Die Welt war friedlich, und seine Familie hatte nie etwas Böses erfahren.
Plötzlich aber erzitterte der Baum. Malfurion hielt sich am Fensterrahmen fest und sah entsetzt, wie die Häuser und Türme Suramars zusammenbrachen. Menschen schrien, überall brachen Feuer aus.
Er suchte nach seinen Kindern, aber sie waren nirgends zu entdecken. Tyrande saß immer noch auf einem der Äste und spielte eine Melodie auf der Leier.
Malfurion lehnte sich weit aus dem Fenster. „Tyrande, komm rein! Beeil dich!“
Aber sie ignorierte ihn, war ganz in ihre Musik vertieft, obwohl um sie herum die Katastrophe tobte.