Doch dann stieß sie auf eine infizierte Wunde, die sie schockierte. Es war schwer zu sagen, ob sie durch einen Unfall oder einen Angriff entstanden war. Das Opfer, ein älterer Mann, war bewusstlos und atmete schwer. Tyrande betrachtete den grünlichen Eiter und wunderte sich über die seltsamen Schnittwunden. Die Gefährtin des Opfers hatte ihr Haar mit den Überresten einer Diamantbrosche zusammengebunden. Sein Kopf lag in ihren Schoß gebettet.
„Wie ist das passiert?“, fragte Tyrande, die nicht wusste, ob sie noch etwas gegen die Infektion würde bewirken können. Etwas daran verstörte sie.
„Es ist nicht passiert. Es wurde ihm angetan.“
„Ich verstehe nicht, was du meinst.“
Das Gesicht der älteren Frau verhärtete sich, als sie um ihre Fassung rang. „Dieses Ding… Er sagte, es habe wie ein Wolf oder Hund ausgesehen – aber verändert wie aus einem schrecklichen Alptraum.“
Tyrande erschauderte. Sie wusste, dass die Frau von einer Teufelsbestie sprach. Mehr als einmal war Malfurion ihnen nur knapp entkommen. Sie gierten vor allem nach Magie und entzogen sie ihren Opfern. Zurück blieb nur eine ausgetrocknete Hülle.
„Und er hat den ganzen Weg von Ara-Hinam so zurückgelegt?“ Die Priesterin fragte sich, wie jemand eine solch schreckliche Wunde so lange überleben konnte.
„Nein, wir entkamen unverletzt.“ Ihre Worte waren voller Bitterkeit. „Das hat man ihm vor zwei Tagen angetan, als wir abseits der Streitmacht nach Nahrung suchten.“
Zwei Tage? Da war der Flüchtlingsstrom noch auf dem Weg zum Mount Hyjal gewesen. Aber keiner der Dämonen hatte sich so weit vorne befunden, dessen war Tyrande überzeugt.
„Bist du sicher, dass es nur zwei Tage her ist? Und dass es hier in der Nähe geschah?“
„In dem Wald, der nun südlich von uns liegt. Ich schwöre es.“
Die Priesterin biss sich auf die Lippe. Die Wälder lagen hinter den Linien der Nachtelfen. Sie beugte sich über den Verletzten und sagte: „Ich will sehen, was ich tun kann.“
Sie zwang sich dazu, die Wunde zu berühren, um wenigstens zu verhindern, dass die Infektion sich ausbreitete. Hinter ihr atmete Shandris scharf ein. Das Mädchen machte sich berechtigte Sorgen um sie. Man wusste nie, was wirklich hinter einer Wunde steckte, die von einem Dämon verursacht worden war. Die Brennende Legion war auch in der Lage, Seuchen zu verbreiten.
Der Mond war nicht am Himmel zu sehen, doch das störte Tyrande nicht. Die Priesterinnen waren zwar stärker, wenn der Mond sichtbar schien, doch für sie war er niemals weit entfernt. Ihre Verbindung zu Elune war so stark, dass Zeitpunkt oder Zyklus keine Rolle spielten.
„Mutter Mond, erhöre mein Flehen“, flüsterte sie. „Erweise deiner Dienerin das Geschenk deiner kühlenden und heilenden Kräfte. Führe meine Hände zur Wurzel dieser Wunde und lass mich die Last aufnehmen, auf dass dieser Unschuldige gerettet werden kann.“
Tyrande begann leise zu summen. So konnte sie sich besser auf ihre Aufgabe konzentrieren. Die Wunden Broxigars, die sie geheilt hatte, waren eine Kleinigkeit gegen das, was sie jetzt zu heilen versuchte. Mit ganzer Macht kämpfte sie darum, die Kontrolle zu behalten. Trotzdem fühlte sie sich, als würde sie fallen.
Ohne jede Vorankündigung tauchte ein silbernes Licht an ihren Fingerspitzen auf. Die Gefährtin des Verletzten starrte mit geweiteten Augen darauf, während Shandris erneut einatmete. Tyrandes Hoffnungen stiegen. Elune ging auch dieses Mal auf ihre Gebete ein. Die Göttin war an diesem Tag wahrhaft mit ihr.
Die Heilerin führte ihre Finger über die Wunde und achtete vor allem auf die Bereiche, wo die Infektion am schlimmsten war. Tyrande verzog das Gesicht, als sie die vereiterten Stellen berührte. Wie bösartig mussten die Dämonen sein, wenn ein einzelner Biss oder Kratzer schon solch schreckliche Konsequenzen hatte?
Dort, wo Tyrandes Finger die Wunde berührte, ging die Infektion zurück. Die Pusteln trockneten aus und verschwanden. Der blutige Riss wurde schmaler, als würde er sich selbst langsam heilen.
Ermutigt durch diesen Erfolg betete Tyrande weiter zu Elune. Die Infektion schrumpfte, bis nur noch eine kleine ovale Stelle geblieben war. Daraus wurde eine frische Narbe, die weiter verheilte und beinahe verschwand.
Der Nachtelf stöhnte plötzlich, als erwache er aus einem tiefen Schlaf, aber Tyrande hörte noch nicht auf. Sie war sich nicht sicher, ob das Verschwinden der äußeren Symptome bedeutete, dass die Wunde auch im Inneren geheilt war. Die Infektion musste auch Gifte im Blut des Opfers hinterlassen haben.
Einige angespannte Sekunden später beruhigte sich der Herzschlag des Nachtelfen. Seine Augen öffneten sich, und die Priesterin wusste, dass sie den Fluch des Dämons besiegt hatte. Sie lehnte sich zufrieden zurück und dankte Elune. Die Göttin hatte ihr ein Wunder gewährt.
Die ältere Nachtelfe beugte sich vor und ergriff Tyrandes Hand. „Ich danke dir, Schwester. Danke!“
„Ich bin nur ein Werkzeug von Mutter Mond. Ihr schuldet ihr Dank, nicht mir.“
Trotz dieser Worte bedankten sich der geheilte Nachtelf – sein Name war Karius – und seine Gefährtin überschwänglich für die heldenhafte Leistung der Priesterin. Tyrande wusste kaum, wie sie sich dem Dank entziehen sollte.
„Ihr könnt mir einen Gefallen erweisen, indem ihr mir genauer schildert, was geschehen ist“, sagte sie schließlich.
Karius nickte und begann alles zu erzählen, woran er sich noch erinnerte. Er und seine Gefährtin hatten während der Flucht begriffen, dass sie Nahrung benötigten. Doch in dem Chaos, das zu diesem Zeitpunkt herrschte, hatten sie niemanden gefunden, der genügend Vorräte dabei hatte, um mit ihnen teilen zu können. Die meisten hatten nur das dabei, was sie hektisch hatten zusammenraffen können.
Karius hatte einen Wald entdeckt, in dem er sich frisches Wasser und Beeren erhoffte. Er ließ seine Gefährtin zurück und versprach ihr, dass er bald wieder da sein würde. Es war eine Verzweiflungstat, denn er ahnte, dass die anderen Nachtelfen den Wald schon längst geplündert hatten.
Karius ging tiefer in den Wald, als er es ursprünglich vorgehabt hatte. Er begann sich Sorgen darüber zu machen, wie er seine Gefährtin wiederfinden sollte, obwohl sie ihm versprochen hatte, auch auszuharren, wenn seine Suche länger dauern sollte. Schließlich entdeckte Karius einen Busch voller reifer roter Beeren. Rasch füllte er seine Gürteltasche damit und aß zwischendurch ein paar, um sich zu stärken.
Er hatte gerade die Tasche geschlossen, als er im Wald etwas Großes hörte. Zuerst dachte er an einen Tauren oder einen Bären. Hastig machte er sich auf den Rückweg. Immer wieder blickte er über die Schulter, um nicht überrascht zu werden.
Und deshalb blickte er in die falsche Richtung, als die Bestie ihn frontal angriff.
Kanus hatte einst in der Festung Black Rook gedient, deshalb reagierte er trotz der Strapazen seiner langen Reise sehr schnell. Er warf sich zur Seite, als das Monster – eine Art Dämonenhund, aus dessen Rücken Tentakel wuchsen – über ihn herfiel. Die Bestie traf nicht wie geplant seine Kehle, sondern krallte sich in sein Bein.
Irgendwie gelang es Karius, nicht zu schreien, obwohl jede Faser seines Körpers danach verlangte. Stattdessen tastete der Nachtelf nach etwas, womit er sich verteidigen konnte. Seine Hand fand einen schweren, spitzen Stein. Er riss ihn aus dem Boden und schlug ihn mit aller Macht gegen die Nase des Ungetüms.
Er hörte etwas bersten. Die Kreatur jaulte heiser und ließ sein Bein los. Karius glaubte nicht, dass er ihr noch entkommen würde, doch im gleichen Moment hörte er von weiter entfernt ein scharfes Geräusch.
Der schreckliche Hund reagierte sofort und überraschend. Er winselte einen Moment lang, dann lief er der Quelle des Klangs entgegen. Karius folgte seinem Überlebensinstinkt und kroch in die entgegengesetzte Richtung. Er stoppte noch nicht einmal, um seine blutende Wunde zu verbinden. Der verletzte Nachtelf schleppte sich zurück zu seiner wartenden Gefährtin. Bei jedem Schritt erwartete er die Rückkehr der Kreatur…