Der Orc grunzte. „Das hoffe ich auch.“
Aber seine Blicke waren weiter auf Illidans Rücken gerichtet.
Rhonin beobachtete die Unterhaltung zwischen dem Orc und der Priesterin. Er wusste, weshalb Brox zu Tyrande gegangen war. Illidans Zuneigung zu ihr grenzte an Besessenheit. Der Zauberer schien sich keine großen Sorgen um das Leben seines Bruders zu machen. Stattdessen – zumindest wirkte es auf Rhonin so – benutzte er dessen Abwesenheit, um Tyrande für sich zu gewinnen.
Doch diese Dreiecksgeschichte unter Nachtelfen interessierte ihn nicht sonderlich. Seine Gedanken kreisten um die Ereignisse im Wald. Rhonin war natürlich erleichtert, dass Krasus und der Druide überlebt hatten. Doch ihr Sieg verstörte ihn auch mehr als alles andere, was er seit seiner Ankunft in dieser Welt erlebt hatte.
Sie hatten gegen Hakkar, den Hundemeister, gekämpft. Der Name allein jagte einen Schauer über Rhonins Rücken, denn mit seiner Peitsche konnte der Dämon zahllose Teufelsbestien zu sich rufen. Sie waren der Schrecken eines jeden Zauberers. Niemand wusste, wie viele Dalaran-Magier während der zweiten Invasion der Brennenden Legion gestorben waren.
Rhonin fürchtete den Hundemeister also aus gutem Grund, aber etwas anderes fürchtete er noch mehr.
Hier, in der Vergangenheit, fürchtete er den Tod des Hundemeisters.
Hakkar war in der Zukunft gestorben. Der Dämon hatte den Krieg gegen die Nachtelfen überlebt.
Aber nicht dieses Mal. Dieses Mal war er getötet worden… und das bedeutete, dass die Zukunft sich geändert hatte.
Und es bedeutete auch, dass dieser erste Krieg, trotz des Siegs über einen mächtigen Dämon, verloren werden konnte.
Die Hippogriffs glitten unter den kraftvollen Schlägen ihrer gewaltigen Flügel hoch über das Land. Sie waren zwar nicht so schnell wie Drachen, doch nur wenige andere Wesen konnten sich mit ihrer Schnelligkeit messen. Diese Tiere lebten für den Flug, und Krasus spürte ihre Begeisterung, als sie sich gegenseitig über Hügel, Flüsse und Wälder jagten.
Der Drachenmagier, der den Himmel ebenso sehr liebte, hob den Kopf und genoss den Wind, der durch sein Haar wehte. Seit seiner Verwandlung hatte er dieses Gefühl nicht mehr gehabt. Er lächelte, als er an seinen ersten gemeinsamen Flug mit Alexstrasza dachte. An diesem Tag war er zu ihrem Gefährten geworden, und sie hatten das Ritual der ersten Paarung begonnen.
Während des Rituals hatte Krasus – oder Korialstrasz in seiner wahren Gestalt – die wesentlich größere Königin unzählige Male umkreist, um ihr seine Stärke und Wendigkeit zu demonstrieren. Währenddessen war sie einen großen Kreis um das gesamte Drachenreich geflogen. Dabei hatte sie ihre Geschwindigkeit konstant gehalten, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Ihr neuer Gefährte sollte ihr zwar seine Stärke beweisen, aber er musste mit seinen Kräften haushalten, um sich später noch mit ihr paaren zu können.
Korialstrasz hatte alle möglichen Manöver vorgeführt, um sie zu beeindrucken. Er flog auf dem Rücken. Er schoss zwischen engen Bergspitzen hindurch. Er hatte sich sogar einer Felsspitze entgegen fallen lassen und war dem Tod nur um Schuppenbreite entgangen. Er war sicherlich draufgängerisch gewesen, aber das gehörte zum Spiel, war Teil des Rituals.
„Meine Alexstrasza…“, flüsterte Krasus dem Wind zu, als die Erinnerung verschwand. Vielleicht war es eine einzelne Träne oder vielleicht auch nur ein Regentropfen, der über sein Gesicht rollte. Was es auch war, der Wind riss es davon, und Krasus konnte sich wieder auf die Reise konzentrieren, die vor ihm lag.
Die Landschaft wurde felsiger und hügeliger. Sie hatten fast die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Krasus war zufrieden, aber auch ungeduldig. Etwas stimmte nicht, und er ahnte, wer daran schuld war.
Neltharion.
Der Erdwächter.
In Krasus’ angestammter Zeit hatte man dieses Ungeheuer Deathwing genannt.
Er hatte zwar einige Erinnerungen während des Sturzes durch die Geschichte verloren, aber die schwarze Bestie hatte Krasus nicht vergessen.
In der Zukunft war Deathwing das Böse. Er wollte die Welt vernichten und sich zum Herrscher über die Ruinen aufschwingen. Neltharion hatte die Schwelle zum Wahnsinn bereits übertreten, und Krasus hatte darunter gelitten. Als er von seinem jüngeren Ich das letzte Mal nach Hause gebracht worden war, hatte es einen Zusammenstoß zwischen ihm und dem paranoiden Drachen gegeben. Der Erdwächter hatte Krasus aus Angst, er könne anderen von seinem bevorstehenden Verrat berichten – was er wohl auch tatsächlich getan hätte – mit einem Zauber belegt, der ihn daran hinderte, über den schwarzen Leviathan zu sprechen. Die meisten Drachen hielten Krasus wegen dieses Zaubers jetzt für verrückt.
Die Stille, die zuerst Krasus und dann auch sein älteres Ich wahrgenommen hatten, ließ darauf schließen, dass Neltharion seine Pläne vorangetrieben hatte. Krasus wusste nicht mehr, woraus diese Pläne bestanden, und es schmerzte ihn, dass gerade diese Erinnerung verloren gegangen war. Es gab nur eine Sache, die der Drachenmagier in der Vergangenheit geändert hätte, auch ohne die Konsequenzen für die Zukunft zu kennen, und das war der Verrat des Erdwächters. Dieser Verrat hatte den Niedergang des Drachenvolkes besiegelt.
Krasus bemerkte plötzlich, dass Malfurion seinen Namen rief. Er schüttelte die Gedanken ab und sah den Druiden an.
„Krasus, bist du krank?“
„In einer Weise, die nie geheilt werden kann“, antwortete der ältere Magier. Er runzelte die Stirn über seine eigene Gedankenlosigkeit. Über die Jahrhunderte hinweg hatte er gelernt, seine Gefühle zu verbergen. Doch seine Rückkehr in diese turbulente Zeit schien ihm diese Gabe geraubt zu haben. Jetzt hatte er nur wenig mehr Kontrolle über sich als Rhonin oder der Orc.
Der Druide nickte, obwohl er die Antwort nicht verstehen konnte und wandte sich ab. Krasus fluchte innerlich. Er durfte nicht die Kontrolle verlieren, sonst würde alles unaufhaltsam ins Chaos stürzen.
Malfurion verstand nicht, was Hakkars Tod bedeutete. Wie konnte er auch? Er wusste nicht, dass der Hundemeister zu den Dämonen gehört hatte, die in der Zukunft getötet worden waren.
Rhonin würde begreifen, was das bedeutete, wenn er davon erfuhr. Die Auswirkungen waren weitreichend. Krasus konnte nicht mehr sagen, was die Zukunft bringen würde. Nicht einmal, ob es noch eine Zukunft gab.
Ihre Reise ging ereignislos weiter. Einmal landeten die Hippogriffs, um ihren Durst in einem Fluss zu stillen, und die beiden Reiter nutzten die Gelegenheit, um das Gleiche zu tun. Sie teilten sich eine Mahlzeit und stiegen dann wieder auf ihre Tiere. Krasus hoffte, dass die nächste Landung bereits auf dem Gebiet seines Volkes stattfinden würde.
Die Landschaft wurde bergig. Gewaltige Gipfel streckten sich dem Himmel entgegen. In einiger Entfernung sah Krasus zwei große schwarze Vögel, die ihnen entgegen flogen. Der Drachenmagier wurde nervös. Bald schon würde er zuhause sein.
Krasus hoffte nur, dass dort alles in Ordnung war.
Malfurions Hippogriff krächzte. Dem Magier fiel erst jetzt auf, dass die beiden Vögel immer noch auf sie zuflogen… und dass sie viel größer waren, als er anfangs angenommen hatte.
Zu groß, um Vögel zu sein.
Er beugte sich vor und kniff die Augen zusammen.
Drachen… schwarze Drachen!
Krasus stieß seinem Reittier die Ferse in die Seite und rief Malfurion zu: „Wir müssen zur Südspitze der Bergkette! Beeilung!“
Der Druide erkannte die Bedrohung ebenfalls und gehorchte. Die beiden Hippogriffs kippten zur Seite, aber die Drachen passten ihren Kurs nicht an. Trotz ihrer guten Augen hatten sie die kleineren Wesen noch nicht bemerkt.
Krasus ahnte, dass sich das jeden Moment ändern konnte. Deshalb trieb er sein Reittier stärker an. Vielleicht war es nur ein Zufall, dass sich die beiden Drachen hier draußen aufhielten, aber das bezweifelte er. Krasus kannte Neltharions wachsende Paranoia. Wahrscheinlich hatte er die beiden Drachen ausgesandt, um nach Eindringlingen zu suchen. Trotz seines Wahnsinns hatte der Erdwächter in diesem Fall Recht behalten.