Mannoroth starrte grimmig auf die Energiekugel. Sie sträubte sich gegen eine Veränderung, weigerte sich, einen Zugang zu seinem Herrn zu öffnen. Gelbe Schweißperlen liefen über die Stirn des Dämons. Schaum stand auf seinen froschartigen, breiten Lippen. Obwohl Mannoroth bei einem Fehlschlag jede Verbindung zu seinem Herrn verlieren würde, war er doch sicher, trotzdem dafür bestraft zu werden.
Niemand entkam dem Zorn von Sargeras.
Der Gedanke spornte ihn noch stärker an. Er entriss den Nachtelfen den letzten Rest ihrer Kraft und hörte, wie sie rundum aufstöhnten.
Und plötzlich entstand ein Punkt völliger Schwärze in der Lichtkugel. Aus ihrem tiefsten Inneren stieg eine Stimme empor und hallte durch Mannoroths Geist. Eine Stimme, die ihm so vertraut wie seine eigene war.
Mannoroth… bist du es…?
Aber es war nicht Sargeras.
Ja, antwortete er zögernd. Der Weg ist wieder frei.
Wir haben zu lange gewartet. Die Stimme klang so kalt, dass selbst der gewaltige Dämon sich unter ihr duckte. Du hast ihn enttäuscht.
Ich habe alles getan, was möglich war!, wollte Mannoroth protestieren, aber eine innere Stimme warnte ihn vor dieser Dummheit.
Das Portal muss vollständig für ihn geöffnet werden. Ich werde dafür sorgen, dass das endlich geschieht. Bereite dich auf mich vor, Mannoroth, ich komme jetzt zu dir.
Im gleichen Moment dehnte sich die Schwärze aus und wurde zu einer großen Leere, die über dem Muster schwebte. Das Portal war anders als das, was die Nachtelfen erschaffen hatten, was aber daran lag, dass nun auch der Dämon auf der anderen Seite es mit seinem Geist stärkte. Dieses Mal würde es nicht zusammenbrechen.
„Auf die Knie!“, brüllte Mannoroth. Die Zauberer, die immer noch unter seiner Kontrolle standen, gehorchten unverzüglich. Die Teufelswächter und Nachtelfensoldaten folgten ihnen einen Moment später. Sogar Captain Varo’then kniete sich rasch nieder.
Der Dämon kniete als Letzter, doch mit größtem Respekt. Er fürchtete diesen Dämon fast so sehr wie Sargeras.
Wir sind bereit, sagte er zur anderen Seite. Mannoroth richtete seinen Blick auf den Boden. Jedes auch noch so geringe Anzeichen von Widerstand konnte seinen sofortigen Tod bedeuten. Wir, die Unwürdigen, erwarten Eure Ankunft… Archimonde…
2
Die Welt, die er gekannt hatte, die Welt, die sie alle gekannt hatten, existierte nicht mehr.
Die Mitte des Kontinents von Kalimdor war eine verwüstete Steppe. Die Dämonen hatten die selbstgefällige, dekadente Kultur der Nachtelfen hinweggefegt. Hunderte, vielleicht sogar Tausende waren ermordet worden, und die Brennende Legion marschierte ohne Gnade immer weiter.
Aber nicht überall sind wir gescheitert, dachte Malfurion Stormrage. Hier haben wir sie aufgehalten, sogar zurückgeworfen.
Der Westen leistete den größten Widerstand gegen die monströse Invasion. Dafür war Malfurion weitgehend verantwortlich. Er hatte dafür gesorgt, dass der Zauber der Hochwohlgeborenen vernichtet wurde und die Macht des Brunnens der Ewigkeit auch wieder allen außerhalb von Königin Azsharas Palast zur Verfügung stand. Er hatte sich Lord Xavius, dem Berater der Königin, gestellt und ihn in einem schweren Kampf getötet.
Lord Kur’talos Ravencrest, der Herrscher der Black-Rook-Festung und Kommandant der Nachtelfen-Streitkräfte hatte seine Taten zwar vor den versammelten Kommandanten hervorgehoben, aber Malfurion fühlte sich nicht wie ein Held. Xavius hatte ihn während ihrer Begegnung mehr als einmal überlistet. Nur dank seiner Begleiter hatte er den Berater und den Dämon, dem dieser diente, überwältigen können.
Mit seinem lose fallenden, dunkelgrünen und schulterlangen Haar fiel Malfurion Stormrage unter den anderen Nachtelfen auf.
Nur sein Zwillingsbruder Illidan – der seine schmalen, beinahe wölfisch wirkenden Gesichtszüge teilte – erregte noch mehr Aufsehen. Malfurions Augen waren silbern, eine Farbe, die sehr häufig bei seinem Volk vorkam. Illidans Augen waren hingegen bernsteinfarben. Man sagte, dies sei ein Zeichen für die großen Taten, die er einmal vollbringen würde. Hinzu kam, dass Illidan sich auffällig kleidete, was bei den Nachtelfen gern gesehen wurde, während Malfurion einfache Kleidung bevorzugte – ein Stoffhemd, eine schnörkellose Lederweste und ebensolche Hosen sowie kniehohe Stiefel. Malfurion hatte sich der naturverbundenen Magie des Druidentums verschrieben. Er wäre sich wie ein Clown vorgekommen, wenn er in der Kleidung eines hochwohlgeborenen Festbesuchers versucht hätte, mit den Bäumen, den Tieren und der Erde des Waldes zu sprechen.
Er runzelte die Stirn und versuchte, solche überflüssigen Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Der junge Nachtelf hatte sich diesen Ort in dem bis jetzt unberührten Wald von Ga’han ausgesucht, um seinen Geist auf die bevorstehenden Tage vorzubereiten. Lord Ravencrests gewaltige Streitmacht würde sich bald in Bewegung setzen – wohin, wusste noch niemand. Die Brennende Legion war an so vielen Orten auf dem Vormarsch, dass es die Armeen des Adligen Jahrzehnte kosten würde, Schlachten gegen sie zu führen und sie aufzuhalten. Dem Sieg würden sie damit nicht näher kommen. Deshalb hatte Ravencrest die besten Strategen zusammengerufen. Sie mussten einen Weg finden, um den entscheidenden Sieg möglichst schnell zu erringen. Jeder Tag des Zögerns kostete Unschuldige das Leben.
Malfurion konzentrierte sich stärker auf seinen Versuch, inneren Frieden zu finden. Langsam entspannte sich sein Geist, bis er das Rascheln der Blätter wahrnahm. Das war die Sprache der Bäume. Mit etwas Anstrengung hätte er mit ihnen reden können, doch es reichte dem Nachtelf, nur dazusitzen und ihrer fast schon musikalisch klingenden Art der Verständigung zu lauschen.
Der Wald hatte ein anderes Zeitgefühl, das fiel besonders bei den Bäumen auf. Sie hatten vom Krieg erfahren, sprachen jedoch nur sehr abstrakt darüber. Sie wussten, dass andere Wälder von den Dämonen zerstört worden waren, aber die Waldgötter, die über sie wachten, hatten ihnen noch keinen Anlass zur Besorgnis gegeben. Sollte die Gefahr näher kommen, würde man ihnen das sicherlich mitteilen.
Ihre Trägheit ärgerte Malfurion. Es war offensichtlich, dass die Brennende Legion alle Lebewesen bedrohte, nicht nur die Nachtelfen. Es war ihm klar, weshalb der Wald das noch nicht begriff, aber seine Beschützer sollten es längst verstanden haben.
Doch wo steckten Cenarius und die anderen?
Als Malfurion beschlossen hatte, den Pfad eines Druiden einzuschlagen – was noch niemand aus seinem Volk je versucht hatte –, war er außerhalb der Stadt Suramar tief in den Wald eingedrungen, um einen mystischen Halbgott zu suchen. Er wusste nicht, weshalb er geglaubt hatte, ausgerechnet er könne ein solches Wesen aufspüren, aber es war ihm tatsächlich gelungen. Das allein war eine große Überraschung gewesen, aber als der Herr des Waldes ihm dann auch noch anbot, er könne sein Schüler werden, hatte Malfurion seinen Ohren nicht getraut.
Und so wurde Cenarius für die nächsten Monate zu seinem shan’do, seinem ehrenwerten Lehrer. Von ihm hatte Malfurion gelernt, wie man den smaragdfarbenen Traum betrat, diese Ebene zwischen der Welt der Sterblichen und dem Schlaf. Er lernte auch, wie man mit den Kräften der Natur Zauber zu werfen vermochte. Diese Lehren hatten nicht nur Malfurion mehrfach das Leben gerettet, sondern auch den anderen Verteidigern.
Aber wieso hatten Cenarius und die anderen Waldgottheiten den verzweifelten Kämpfern nicht mit ihrer eigenen Macht beigestanden?
„Ha! Ich war mir sicher, dass ich dich hier finden würde.“
Die Stimme war seiner eigenen so ähnlich, dass Malfurion den Neuankömmling sofort erkannte. Er gab seine Suche nach innerem Frieden auf, erhob sich und begrüßte seinen Bruder ruhig: „Illidan, warum kommst du?“