Der Nachtelf wusste, dass Krasus ihm einiges verheimlichte. Allerdings respektierte der Druide ihn so sehr, dass er der Angelegenheit nicht weiter nachging. Malfurion wollte ihm nur helfen, erst recht nachdem er wusste, worum es ging. Wenn Krasus sein Volk überzeugen konnte, sich mit der Streitmacht zu verbünden, war die Brennende Legion am Ende.
Doch ihre Zauber vermochten die Barriere nicht zu öffnen, und sie konnten sie auch nicht durchschreiten wie ein Geist oder –
Der Druide schluckte und sagte: „Ich weiß, wie ich auf die andere Seite gelangen kann.“
„Wovon redest du?“
„Ich… ich könnte in den smaragdfarbenen Traum gehen.“
Das Gesicht des Magiers verfinsterte sich zunächst, dann wurde es nachdenklich. Malfurion hoffte, dass er die Idee ablehnen würde, doch stattdessen nickte Krasus. „Ja, das ist vielleicht der einzige Weg.“
„Aber würde es funktionieren? Ich weiß nicht, ob sie in der Lage wären, mich zu hören oder zu sehen… und selbst wenn, würden sie mir zuhören?“
„Eine könnte zu all dem in der Lage sein. Sie musst du suchen. Ihr Name ist Ysera.“
Ysera. Cenarius hatte diesen Namen erwähnt, als er mit seinem Schüler über das Traumreich sprach. Ysera war einer der fünf großen Aspekte. Sie herrschte über den smaragdfarbenen Traum. Ysera würde den Druiden selbst in seiner Geistform wahrnehmen… aber würde sie ihn auch anhören?
Krasus bemerkte die zögerliche Reaktion des Nachtelfen und fügte hinzu: „Du musst sie davon überzeugen, dich zu Alexstrasza zu bringen. Sie soll mit Korialstrasz sprechen, der uns beide kennt. Ihm wird Alexstrasza Gehör schenken.“
Malfurion bemerkte, wie sich seine Stimme veränderte, wenn er ihren Namen aussprach. Offensichtlich war sie für Krasus sehr wichtig. Er wusste, dass Alexstrasza ebenfalls ein Aspekt war und fragte sich, wie Krasus so selbstverständlich über sie sprechen konnte. Sein Begleiter war offensichtlich nicht nur ein einfacher Drache, der die jüngeren Völker ausspionierte. Vielmehr schien er einen hohen Rang bei seinem Volk einzunehmen.
Diese Erkenntnis verlieh Malfurion Stärke. „Ich werde tun, was ich kann.“
„Sollte Ysera zögern“, riet Krasus, „wäre es gut, Cenarius zu erwähnen. Mehr als einmal, wenn nötig.“
Der Nachtelf nickte. Er vertraute auf Krasus’ Weisheit, auch wenn er nicht verstand, warum er das tun sollte. Dann setzte er sich hin. Krasus sah ruhig zu, während er seinen Körper in die richtige Stellung brachte. Als er mit seiner Haltung zufrieden war, schloss er die Augen und konzentrierte sich.
Zuerst meditierte er, um seinen Körper zu beruhigen. Während sich der Nachtelf entspannte, spürte er die ersten Anzeichen von Müdigkeit. Er hieß sie willkommen und ermunterte sie sogar. Mehr und mehr zog sich der Druide aus der Welt der Sterblichen zurück. Friede senkte sich wie eine Decke über Malfurion. Er wusste, dass Krasus über ihn wachte, deshalb hatte er keine Angst loszulassen. Der Magier würde seinen hilflosen Körper beschützen.
Rasch schlief Malfurion ein. Gleichzeitig war er jedoch wacher denn je. Der Nachtelf konzentrierte sich nun auf seinen Abschied von der Welt der Sterblichen. Er setzte um, was Cenarius ihn gelehrt hatte und trennte seinen Geist von seinem Körper.
Das und die Suche nach dem Eingang zum smaragdfarbenen Traum erwiesen sich als so einfach, dass Malfurion sich wegen seines Zögerns schämte. Solange er sich auf seine Aufgabe konzentrierte, würde er das andere Reich wohl ohne Angst bereisen können.
Ein grüner Schleier schien über allem zu liegen. Krasus verschwand, und Malfurions Umgebung änderte sich. Die Berglandschaft sah in beiden Reichen erstaunlich ähnlich aus, aber im smaragdfarbenen Traum waren die Berggipfel spitzer und nicht vom Wetter geglättet. Hier sahen sie so aus, wie an dem Tag, als die Schöpfer sie aus dem Boden gehoben hatten. Trotz seiner Aufgabe von äußerster Dringlichkeit verharrte Malfurion einen Moment, um die Schöpfung der Himmlischen zu betrachten. Die Majestät seiner Umgebung beeindruckte ihn.
Doch nichts davon würde in der wahren Welt überleben, wenn niemand die Brennende Legion aufhielt, und so riss sich der Druide schließlich los. Er streckte seine Hand nach der Barriere aus und konnte sie mühelos hindurchschieben. Im smaragdfarbenen Traum schien der Zauber wahrhaftig nicht zu existieren. Die Drachen erwarteten Eindringlinge, die aus der Welt der Sterblichen stammten und daher an ihre Gesetze gebunden waren.
Malfurion durchschritt die Barriere und schwebte auf die höchsten Gipfel in einiger Entfernung zu. Vor seiner Kollision mit dem Schild hatte Krasus ihm verraten, wo man sein Volk finden konnte. Da der Magier nichts anderes hinzugefügt hatte, ging Malfurion davon aus, dass er sich weiter in diese Richtung bewegen sollte.
Er flog über das schweigende Land. Zwischen den hohen Bergen fühlte er sich verschwindend klein. Der grüne Nebel und das fehlende Tierleben verliehen der Landschaft etwas Unwirkliches.
Als sich Malfurion seinem Ziel näherte, begann er sich zu konzentrieren. Die grüne Färbung nahm ab, und er bemerkte die ersten Wetterschäden. Der Geist des Druiden bewegte sich immer noch durch den smaragdfarbenen Traum, doch jetzt blickte er auch in die gegenwärtige Welt.
Und als erstes blickte er auf einen gewaltigen, Furcht einflößenden roten Drachen.
Erschrocken wich Malfurion zurück. Halb erwartete er, dass das Maul des Leviathans ihn verschlingen würde, aber der Wachposten sah einfach durch ihn hindurch. Der Druide brauchte ein paar Sekunden, bevor er bemerkte, dass der Drache ihn nicht sehen konnte.
Die Anwesenheit des Wächters, der hoch auf einem Berggipfel saß, bestätigte den Nachtelf in dem Glauben, dass er in der Nähe der Drachenhöhlen war. Allerdings hatte Malfurion nicht die Zeit, die Berge nach den Drachen zu durchsuchen. Stattdessen dachte er darüber nach, was er wusste. Ysera herrschte über den smaragdfarbenen Traum. So nahe, wie er ihr jetzt war, musste sie seinen geistigen Ruf hören.
Doch ob sie antworten würde, stand auf einem anderen Blatt.
Versuchen musste er es dennoch. Also verschmolz der Druide mit dem smaragdfarbenen Traum und stellte sich den grünen Drachen vor. Er wusste, dass seine Vorstellung von ihm nicht den Tatsachen entsprach, aber sie half seiner Konzentration.
Ysera, Herrscherin des smaragdfarbenen Traums, großer Aspekt, bescheiden bitte ich um Eure Aufmerksamkeit… Ich bringe Euch Nachricht von einem, der Sie, Die Das Leben Ist kennt, Eure Schwester, Alexstrasza…
Malfurion wartete. Als klar wurde, dass er keine Antwort erhalten würde, versuchte er es noch einmal.
Ysera, Herrscherin des Traums, im Namen von Cenarius, Gott des Waldes, bitte ich um dein Gehör. Ich rufe dich an –
Er unterbrach sich, als er ein anderes Wesen wahrnahm. Der Druide wandte den Kopf nach rechts und entdeckte eine Nachtelfe, die neben ihm schwebte. Sie trug ein durchscheinendes Gewand, das im Wind flatterte, obwohl keine Brise wehte. Die Kapuze des Gewands bedeckte ihren Kopf und ließ nur das Gesicht frei – ein wunderschönes ruhiges Gesicht, dessen einzig verstörender Aspekt die Augen waren… oder besser gesagt, die geschlossenen Lider, von denen die Augen bedeckt wurden.
Die Gestalt hätte tatsächlich eine Nachtelfe sein können, wäre ihr Haar nicht ebenso smaragdfarben wie ihre Haut und ihr Gewand gewesen.
Er zweifelte nicht daran, dass Ysera vor ihm schwebte.
„Ich bin hier“, antwortete sie ruhig, aber bestimmt. Ihre Augen blieben geschlossen. „Ich will deinen Rufen Einhalt gebieten. Deine Gedanken hallen durch meinen Geist wie nicht enden wollender Trommelschlag.“
Malfurion kniete nieder. „Mylady – “
Sie verwarf seine Geste mit einer Handbewegung. „Du musst mir keine Komplimente machen. Du hast mich gerufen. Ich bin da. Sage, was du sagen willst und verschwinde.“
Der Nachtelf war überrascht über seinen Erfolg. Vor ihm stand tatsächlich einer der großen Aspekte. Er konnte nicht glauben, dass er seinem Ruf gefolgt war. „Vergebt mir, ich würde es nie wagen, Euch zu stören…“