Die schreckliche Erinnerung an den geistigen Kerker, in den Lord Xavius ihn verbannt hatte, beflügelte Malfurion. Er befreite sich von dem Zauber, bevor er besiegelt werden konnte. Dann wandte er sich in der Hoffnung an Ysera, dass sie die Gefahr bemerkt hatte…
Nein, sie werden sich nicht einmischen! Neltharions mentale Präsenz war überwältigend. Du wirst nicht vernichten, was ich begonnen habe. Das wird niemand!
Da Ysera nicht eingreifen konnte, tat der Druide das Einzige, was ihm noch übrig blieb. Er verließ die Kammer und die Welt der Sterblichen und zog sich in die Einsamkeit des smaragdgrünen Traumes zurück.
Sofort wurde es ruhig. Er schwebte über den Bergen, dort, wo er die Herrin der Träume getroffen hatte. Erleichtert versuchte er, seine Gedanken zu sammeln.
Mit lautem Gebrüll sprang ihm eine schattenhafte Gestalt entgegen.
Der Druide wich im letzten Moment zurück. Er traute seinen Augen nicht. Neltharion war ihm tatsächlich ins Traumreich gefolgt. Hier wirkte der Drache noch schrecklicher als in der wirklichen Welt. Sein Gesicht war eine verzerrte diabolische Karikatur. Das Böse, das er in die Drachenseele eingebettet hatte, zog sich wie eine Spur der Vernichtung durch sein Gesicht. Neltharion war doppelt so groß wie in der realen Welt. Seine Klauen umspannten Meilen, und seine Flügel waren so gewaltig, dass sie die Bergkette verdeckten.
Ich werde nicht aufgeben, was mir zusteht! Nur ich habe das Recht zu herrschen! Du wirst nichts verraten!
Neltharion atmete aus. Grünes Feuer schoss durch den smaragdgrünen Traum.
Malfurion schrie auf, als ihn das Feuer erreichte. Der Drache vollbrachte das Unmögliche. Er war ohne Yseras Wissen in ihren Herrschaftsbereich eingedrungen und versuchte jetzt sogar, die Essenz des Druiden zu vernichten.
Malfurion dachte plötzlich an etwas, das Cenarius einmal gesagt hatte: Die Wahrnehmung ist trügerisch. Was du für real hältst, muss nicht real sein. In der Welt, in der du dich als Druide bewegst, bestimmst du deine Wahrnehmung.
Malfurion wusste zwar nicht, ob er die Lehre richtig verstanden hatte, aber er setzte sie trotzdem ein und leugnete die Flammen einfach. Sie konnten hier nicht existieren. Wie sein eigener Körper und Neltharions Gestalt wirkten sie zwar greifbar echt, waren es aber nicht. Es waren nur Bilder, Illusionen.
Deshalb konnte das Feuer auch kein Haar auf seinem imaginären Kopf versengen.
Die Schmerzen und die Flammen verpufften gleichzeitig. Nur Neltharion blieb zurück. Sein Gesicht wirkte noch verzerrter als zuvor. Er betrachtete die kleine Gestalt angewidert, als könne er nicht glauben, dass der Druide es gewagt hatte, am Leben zu bleiben.
Malfurion wusste nicht, ob er bei einem zweiten Angriff des Drachen ebenso viel Glück haben würde. Deshalb entschied er sich für die Flucht. Er konzentrierte sich auf seinen Körper, wollte in ihn zurückkehren.
Die grünlichen Berge entfernten sich plötzlich von ihm. Auch Neltharion wurde zusehends kleiner. Der Druide spürte die Nähe seines Körpers.
Nein!, brüllte Neltharion wütend. Das lasse ich nicht zu!
In dem Moment, in dem der Druide die wirkliche Welt betrat, wurde er von einem harten Schlag getroffen. Im Halbschlaf stöhnte Malfurion, fiel nach hinten und prallte mit dem Kopf auf den Boden. Die letzten Eindrücke des smaragdfarbenen Traumes verschwanden ebenso wie das wütende Gebrüll des schwarzen Drachen.
„Druide!“, rief eine andere Stimme. „Malfurion Stormrage! Kannst du mich hören? Bist du zurückgekehrt?“
Er versuchte, sich auf die Person zu konzentrieren. „K-Krasus?“
Malfurion warf einen Blick auf das Gesicht des Magiers und wich angsterfüllt zurück. Die monströsen Züge eines Drachen starrten ihm entgegen. Das Maul war aufgerissen und wollte ihn verschlingen.
„Malfurion!“
Krasus’ schneidende Stimme riss ihn aus seiner Angststarre. Der Nachtelf blinzelte und blickte in das entschlossene blasse Gesicht des Magiers.
Krasus wirkte besorgt. Er half Malfurion auf und reichte ihm einen Wasserschlauch. Erst als der Druide seinen Durst gestillt hatte, fragte der andere ihn, was geschehen war.
„Hast du die Herrin der Träume gefunden?“
„Ja, und ich habe Cenarius mehr als einmal erwähnt, so wie Ihr es wolltet.“
Der Drachenmagier lächelte knapp. „Ich habe mich nur an etwas erinnert, das mir Alexstrasza einmal erzählte. Ich dachte mir, dass Yseras Gefühle so weit in der Vergangenheit noch stärker sein müssten.“
„Also hatte ich Recht. Sie und mein shan’do – “
„Überrascht dich das? Ihre Herrschaftsbereiche überlappen einander sehr stark. Seelenverwandte fühlen sich oft zueinander hingezogen, egal, wie unterschiedlich ihre Abstammung ist.“
Malfurion hakte nicht nach. „Sie hat mich zu ihrem Treffpunkt begleitet.“
Krasus’ Augen weiteten sich. „Die fünf Aspekte haben sich getroffen?“
„Ich habe nur vier gesehen. Ysera, Alexstrasza, ein silberblauer Drache mit heiterem Gesichtsausdruck…“
„Malygos… er wird sich sehr verändern.“
„Und… und…“ Plötzlich konnte der Nachtelf nicht weitersprechen. Die Worte klebten an seiner Zungenspitze, wollten sich nicht lösen. Er versuchte, den Namen auszusprechen, doch aus seinem Mund quollen nur sinnlose Laute.
Krasus legte eine Hand auf Malfurions Schulter und nickte. „Ich verstehe. Es war noch einer anwesend.“
„Ja… noch einer.“
Mehr konnte Malfurion nicht sagen, aber Krasus verstand ihn auch so. Der Nachtelf sah seinen Begleiter schockiert an, als ihm klar wurde, dass der Magier Neltharions Namen ebenso wenig über die Lippen brachte wie er selbst. Offenbar hatte auch Krasus eine unangenehme Begegnung mit dem schwarzen Drachen hinter sich.
Wahrscheinlich wusste Krasus auch von der Drachenseele.
Sie starrten einander an, und ihr Schweigen verriet viel von dem, was ihre Münder nicht zu sagen vermochten. Kein Wunder, dass der Drachenmagier so besessen davon war, sein Volk zu erreichen. Die Leviathane waren von einem der ihren verraten worden, und die einzigen, die davon wussten, konnten nicht darüber reden – noch nicht einmal miteinander.
„Wir müssen weg“, murmelte Krasus. „Du kannst dir wohl denken, warum.“
Das konnte Malfurion. Neltharion wollte seinen Tod. Der Druide hatte den smaragdgrünen Traum so schnell verlassen, dass der Drache ihn nur noch mit diesem Fluch hatte belegen können, doch das würde ihm nicht genügen. Malfurion war Neltharions Ziel zu nahe gekommen. Krasus hatte bei seiner Begegnung wahrscheinlich Glück gehabt, aber der Wahnsinn des Schwarzen war mittlerweile so umfassend, dass sie nicht mehr lange sicher sein würden. Neltharion würde es zwar nicht wagen, selbst zu handeln, aber…
„Die Wachen!“, stieß er hervor.
„Ja. Wir werden sie wahrscheinlich Wiedersehen. Wir sollten zu den Hippogriffs zurückkehren und verschwinden.“
Zumindest diese indirekte Kommunikation blockierte der Zauber nicht. Das war ein kleiner, aber leider auch nutzloser Vorteil. Sie konnten Andeutungen über ihr Verderben machen, mehr auch nicht.
Er war noch immer so schwach, dass Krasus ihn stützen musste. Langsam gingen sie zurück zu ihren bereits ungeduldig wartenden Reittieren. Eines der Hippogriffs krächzte, als es die beiden entdeckte. Das andere schlug erschrocken mit den Schwingen.
„Werden sie uns den ganzen Weg zurücktragen?“, fragte der Magier.
„Ja. Cenarius würde – “
Der Boden erbebte heftig. Krasus und der Nachtelf stolperten. Die Hippogriffs hoben ab und flatterten aufgeregt. Unter ihnen bohrte sich ein gewaltiger augenloser Wurm aus dem Erdboden. Ein Riss in seinem Kopf öffnete sich und enthüllte ein rundes zahnbesetztes Maul. Der Wurm grunzte tief und verschlang das Langsamere der beiden Hippogriffs.
„Lauf!“, rief Krasus.
Die beiden rannten durch die karge Landschaft. Der Wurm schien trotz der Mahlzeit nicht gesättigt zu sein, denn er drehte sich nach ihnen um. Er grunzte noch einmal und tauchte wieder in die Erde ein.