„Wir müssen uns trennen, Malfurion!“
Sie rannten in unterschiedliche Richtungen. Hinter ihnen explodierte der Boden, als der Wurm nach oben schoss. Er schnappte nach seiner Beute, traf jedoch nur Luft.
Obwohl der Wurm keine erkennbaren Augen hatte, spürte er, wohin Malfurion lief. Sein gewaltiger Körper drehte sich ihm zu. Der runde Schlund öffnete und schloss sich erwartungsvoll.
Das konnte kein Zufall sein. Wahrscheinlich hatte Neltharion diese Monstrosität auf sie gehetzt. Der Verfolgungswahn des Drachen ließ sich durch nichts mehr bremsen.
Der Wurm hatte Malfurion fast erreicht, als etwas seinen Weg kreuzte. Wild krächzend grub das überlebende Hippogriff seine Klauen in den Kopf der Bestie. Sein Schnabel bohrte sich durch die Haut. Das Hippogriff wollte Rache für seinen getöteten Artgenossen.
Der Wurm grunzte und schnappte nach seinem fliegenden Gegner. Das Hippogriff wich ihm aus und griff erneut an. Sein Ziel war der Kopf.
„Kylis Fortua!“, schrie Krasus.
Steine und Erdklumpen, die der Wurm aus dem Boden gerissen hatte, erhoben sich in die Luft und attackierten die Kreatur. Der Wurm schwang vor und zurück, versuchte, den Kollisionen auszuweichen. Die Felsen konnten den Riesen nur leicht verletzen, aber sie irritierten ihn.
Der Druide atmete tief ein und überlegte, wie er seine Magie einsetzen konnte. Es gab nur wenige Pflanzen in dieser Bergregion, doch eine davon erweckte seine Aufmerksamkeit. Malfurion entschuldigte sich bei dem Strauch, dann riss er einige Stacheln von den dünnen Zweigen. Er holte aus und schleuderte sie dem Wurm entgegen.
Der Wind trug die Dornen auf ihn zu, schleuderte sie mit wachsender Geschwindigkeit ihrem Ziel entgegen. Malfurion konzentrierte sich.
Kurz vor ihrem Ziel wuchsen die Dornen plötzlich unter dem Einwirken des Druiden. Sie verdreifachten sich zuerst einmal, dann ein zweites Mal. Als sie den Wurm erreichten, waren sie fast so groß wie der Druide.
Und sie waren härter als die Haut des Wurms. Die Dornen bohrten sich wie stählerne Lanzen in das Fleisch des Monsters. Einige waren jetzt mehr als zwei Meter lang.
Die Kreatur schrie ihre Wut und ihren Schmerz hinaus. Eine grüne dampfende Flüssigkeit floss aus den Wunden und brachte den Boden zum Kochen. Die Stacheln hatten sich tief in den Körper gebohrt. Der Wurm schüttelte sich wild, dennoch blieben sie stecken.
„Gut gemacht!“, rief Krasus und ergriff Malfurions Arm. „Versuche das Hippogriff zu rufen.“
Malfurion berührte den Geist des Tiers, doch dessen Wut war so groß, dass es den Willen des Druiden ignorierte. Der Wurm hatte seinen Gefährten getötet. Dieser Tod musste gerächt werden.
„Es hört nicht zu!“, rief der Druide. Panik schlich sich in seine Stimme.
„Dann müssen wir weiterlaufen.“
Der Wurm, der immer noch versuchte, die Dornen abzuschütteln, folgte ihnen. Er bewegte sich langsamer als vor dem Angriff, war aber immer noch so schnell, dass er die beiden an den Rand der Erschöpfung trieb.
Der Riese bohrte sich tief in die Erde. Der Boden bebte so heftig, dass Malfurion stolperte. Krasus hielt sich auf den Beinen, kam aber kaum vorwärts.
„Ich werde etwas ausprobieren!“, rief er. „Seit ich in dieses Land gekommen bin, habe ich mich davor gefürchtet, aber ohne das Hippogriff habe ich keine andere Wahl, als es zu versuchen.“
„Was?“
Krasus antwortete nicht. Er war bereits in seinen Zauber vertieft. Malfurion spürte die seltsamen Kräfte, die sich um den Magier sammelten, als der den rechten Arm hob und Worte in einer Sprache murmelte, die der Nachtelf noch niemals zuvor gehört hatte. Krasus machte eine schneidende Geste mit seiner Hand, und die Luft teilte sich und enthüllte einen Riss in der Welt.
Nein, keinen Riss, korrigierte sich Malfurion. Ein Portal.
Der Drachenmagier hatte den Zauber gerade vollendet, als die Erde neuerlich bebte. Er wandte sich an den Druiden und rief: „Durch das Tor, Malfurion! Durch das – “
Der Wurm durchbrach die Oberfläche. Krasus taumelte zurück. Malfurion, der bereits den ersten Schritt auf das Tor zugegangen war, wandte sich ab, um seinem Begleiter zu helfen.
„Du hättest hindurchgehen sollen!“, zischte Krasus.
Mit weit aufgerissenem Maul schoss der Wurm den beiden entgegen. Malfurion zog den Magier auf das Portal zu. Er spürte den Wurm hinter sich, roch dessen erdigen Geruch. Ihre Rettung schien weit entfernt zu sein.
Sie betraten das Tor, und der Wurm schnappte zu…
14
Westlich von Suramar endete die Verfolgung der Brennenden Legion. Die Nachtelfen konnten sie nicht mehr weiter zurückdrängen, aber ihre Feinde vermochten auch keinen Boden gutzumachen.
Die Krieger der Brennenden Legion kämpften ohne Unterlass, aber die Nachtelfen hatten einen großen Vorteiclass="underline" Sie kannten die Gegend weit besser als die Dämonen. Die Landschaft rund um Suramar bestand aus sanften Hügeln und breiten Flüssen. Bis vor kurzem hatte es dort auch Wälder gegeben, doch sie waren von der Brennenden Legion niedergebrannt worden. Jetzt sah man nur noch geschwärzte Stämme und zerfallene Hütten. Sie dienten nicht nur als Orientierungspunkte, sondern boten auch Schutz.
Späher wurden ausgesandt, um die genaue Aufstellung der Dämonen zu erkunden. In einer dieser Gruppen befanden sich Brox, Rhonin, Captain Shadowsong und einige seiner Soldaten. Der Orc und der Mensch hatten sich freiwillig für diese Mission gemeldet, da sie besser mit der Vorgehensweise der Brennenden Legion vertraut waren als die Nachtelfen. Ravencrest hatte jedoch darauf bestanden, dass sie und der Rest der kleinen Truppe zu einer festgesetzten Zeit ins Lager zurückkehren mussten. Nur so konnte er ihre Sicherheit garantieren, und abhängig von den Informationen, die ihm seine Kundschafter überbrachten, würde er vielleicht schon kurz darauf angreifen lassen.
Es war Nacht geworden, doch daran lag es nicht, dass die Gruppe so langsam vorankam. Die Dunkelheit hätte ihnen nicht geschadet, im Gegenteil, sie hätte bei der Suche geholfen. Der dichte grüne Nebel, der alles bedeckte, behinderte sie hingegen. Er schien sich überall dort auszubreiten, wo sich die Dämonen aufhielten. In seinem Schutz konnten sie den ahnungslosen Spähern auflauern.
Langsam bewegte sich der zwölfköpfige Spähtrupp über das zerstörte Land. Schwarze, verdorrte Stämme warfen unheimliche Schatten in den Nebel. Der grüne Schleier hüllte alles ein.
Das hatte jedoch auch Vorteile. Der Spähtrupp war nicht weit von Suramar entfernt und bewegte sich gerade durch eine Gegend, in der eine Siedlung gestanden hatte. Hier und da konnte man noch die Ruinen eines umgefallenen oder zertrümmerten Baumhauses erkennen, mehr jedoch nicht. Die Reiter wussten, dass die Einwohner vermutlich irgendwo zwischen ihren zerstörten Behausungen lagen.
„Barbarisch…“, murmelte Jarod.
Brox grunzte. Die Nachtelfen hatten schnell gelernt, wie man sich innerlich gegen Grausamkeiten wappnete, aber sie konnten sie nicht so hinnehmen wie ein Orc. Brox war mit Gewalt aufgewachsen. Zuerst das Ende des Krieges gegen die Allianz, dann der opferreiche Marsch ins Reservat… und schließlich der Kampf gegen die Brennende Legion und die Untoten-Geißel. Er trauerte zwar um die Toten, aber es gab nur wenig, was ihm noch hätte den Magen umdrehen können. Letzten Endes war jeder Tod gleich.
Rechts neben dem Orc fluchte Rhonin leise. Der Zauberer steckte den Sichtstein, den er hatte benutzen wollen, wieder in seine Gürteltasche. Auch diese Magie konnte den Nebel offenbar nicht durchdringen.
Brox vertraute bei der Suche nach dem Feind auf seine eigenen Methoden. Alle paar Schritte hob er die Nase in die Luft und schnüffelte. Die meisten Gerüche, die er wahrnahm, rührten von Tod und Verwesung. Die einzigen Dämonen, die er bemerkt hatte, waren längst tot. Ihre Körper lagen am Boden und verrotteten.
Natürlich gab es viele andere Leichen. Überall lagen verstümmelte Nachtelfen. Einige waren Soldaten, die beim Rückzug ums Leben gekommen waren, andere hilflose Zivilisten, die zu langsam gewesen waren. Kein Opfer war unversehrt: Arme, Beine, sogar Köpfe hatte man abgetrennt. Einige Leichen schienen nach ihrem Tod verstümmelt worden zu sein. Wenn die Soldaten solche Toten sahen, verhärteten sich ihre Gesichter noch mehr.