„Verteilt euch, aber bleibt in Sichtweite“, befahl Jarod, der die Zügel seines Nachtsäblers kurz hielt. „Und achtet auf eure Tiere.“
Den letzten Befehl sprach er zum wiederholten Mal aus. Die großen Panther waren angespannt, so als bemerkten sie etwas, das ihre Reiter nicht wahrnehmen konnten. Das erhöhte die Nervosität des Spähtrupps.
Schatten wie aus einem Alptraum erhoben sich vor ihnen… die äußeren Bezirke Suramars. Die Brennende Legion hatte nicht genug Zeit gehabt, um die ganze Stadt zu schleifen, deshalb ragte ein Teil von ihr noch immer wie ein Skelett in die Höhe. Es war ein Mahnmal für all das, was die Brennende Legion angerichtet hatte… und vielleicht noch anrichten würde.
„Mutter Mond…“, flüsterte ein Soldat.
Brox sah Jarod an. Der Captain starrte ohne zu blinzeln auf seine Heimat. Seine Hände krampften sich um die Zügel. Eine Ader in seinem Hals pochte.
„Es ist schwer, kein Zuhause mehr zu haben“, sagte der Orc, der an sein eigenes Leben dachte.
„Ich habe ein Zuhause“, widersprach Jarod. „Suramar ist immer noch meine Heimat.“
Der Orc schwieg. Er verstand den Schmerz des Nachtelfen.
Durch zertrümmerte Tore rückten sie in die Stadt vor. Es war vollkommen still. Ihr eigener Atem erschien ihnen zu laut an diesem Ort der Ruhe.
Nach einer Weile zügelten sie ihre Reittiere. Jarod sah den Magier Rat suchend an. Vor ihnen teilte sich die Straße in drei Wege.
Aus Sicherheitsgründen hätte die Gruppe eigentlich zusammenbleiben sollen, aber dann blieb ihnen nicht genügend Zeit, um die ganze Stadt zu durchkämmen.
Rhonin runzelte die Stirn und sagte: „Niemand zieht hier allein los. Dieser Nebel ist magisch. Dann können wir eben nicht alles absuchen, Captain.“
„Ich bin deiner Meinung“, stimmte der Captain erleichtert zu. „Ich hätte nie gedacht, dass ich den Ort, an dem ich aufgewachsen bin, einmal mit solchem Misstrauen betreten würde.“
„Das ist nicht mehr dein Suramar, Shadowsong. Das darfst du nie vergessen. Die Brennende Legion beschmutzt alles, was sie berührt. Die Stadt kann auch ohne Dämonen sehr gefährlich sein.“
Brox nickte. Er erinnerte sich noch gut an die Dinge, die aus dem Nebel gekrochen waren, als sein Volk gegen die Höllischen kämpfte. Dagegen verblasste alles, was die Nachtelfen bisher gesehen hatten.
Es waren genügend Ruinen übrig geblieben, um sich in der Stadt orientieren zu können. Hier und da tauchte ein unbeschädigtes Gebäude aus dem Nebel auf. Jarods Soldaten untersuchten diese Häuser in der Hoffnung, auf Überlebende zu stoßen.
Sie fanden jedoch keine.
Die Gruppe hatte sich zwar nicht trennen wollen, aber die Zerstörungen zwangen sie schließlich dazu. Der Weg, den sie gewählt hatten, war so verschlungen und voller Trümmer, dass es zu viel Zeit gekostet hätte, weiter zusammenzubleiben. Also entschied sich Jarod schweren Herzens, jeweils drei Soldaten in Seitenstraßen zu entsenden.
„Macht einen Bogen um die Trümmer und kehrt zu uns zurück, sobald es möglich ist“, befahl er den sechs Nachtelfen. Die beiden Gruppen wendeten ihre Nachtsäbler. „Und bleibt zusammen!“, rief Jarod ihnen nach.
Shadowsong und seine übrig gebliebenen drei Soldaten bildeten die Eskorte für Rhonin – und damit auch für Brox. Langsam zogen sie weiter. Die Nachtsäbler bewegten sich vorsichtig durch die Ruinen. Drei große Baumhäuser waren hier zerstört worden und hatten sich über die Straße verteilt. Eines lag quer über den anderen beiden und über dem Weg.
Brox’ Nachtsäbler trat auf etwas und fauchte erschrocken. Rhonin warf einen Blick nach unten und sagte: „Der Besitzer ist noch hier.“
Auf dem Hügelkamm fanden sie weitere Leichen. Es waren Stadtbewohner, die offenbar versucht hatten zu fliehen, aber von der Brennenden Legion eingeholt worden waren. Abgesehen von ihren schrecklichen Wunden waren die Opfer merkwürdigerweise unversehrt. Die Verwesung hatte nicht eingesetzt, und auch Aasfresser waren nicht über sie hergefallen.
„Sie sind beim ersten Angriff umgekommen“, bemerkte der Magier. „Seltsam, dass sie noch so gut aussehen.“
„Ihr Anblick reicht mir völlig“, sagte Jarod Shadowsong.
Die Panther bewegten sich vorsichtig auf den ursprünglichen Weg zu, der nicht immer leicht erkennbar war. Brox hob seine Nase in die Luft und atmete tief ein.
Einen Moment lang glaubte er etwas wahrzunehmen, doch der Geruch war alt und schwach. Er sah sich um und entdeckte den Kadaver einer Teufelsbestie, die irgendein Soldat aufgespießt hatte. Brox grunzte zufrieden.
Schließlich erreichten sie ebenen Boden. Jarod zeigte nach vorne und sagte: „Da hinten ist eine größere Straße, Meister Rhonin. Dort werden wir die anderen treffen.“
„Das würde mich freuen.“
Kurze Zeit später tauchte die Straße aus dem Nebel auf. Die Gruppe hielt auf einer Kreuzung an und sah sich um.
„Wir sind vermutlich vor ihnen da“, sagte Jarod.
Brox streckte sich. Rhonin setzte sich nervös in seinem Sattel auf. Seine Finger krümmten sich. Der Orc wusste, dass so die Vorbereitungen auf einen Zauber aussahen.
„Ah.“ Jarod wirkte erleichtert. „Da kommen die ersten.“
Von links ritten drei Soldaten heran. Sie wirkten erfreut, als sie ihre Kameraden entdeckten. Sogar die Panther liefen ihnen freudig entgegen.
„Was habt ihr gesehen?“, fragte Shadowsong die Ankömmlinge.
„Nichts, Captain“, antwortete der Ranghöchste. „Nur Ruinen und Leichen. Ungefähr gleich viele von unseren Leuten wie von diesen Ungeheuern.“
„Verdammt…“
„Gibt es Vermisste, die du kennst, die sich aber nicht bei unserer Streitmacht befinden?“, fragte Rhonin.
„Leider sehr viele. Und je mehr Leichen wir hier finden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie in der Menge einfach übersehen habe.“
Brox hatte solche Geschichten schon oft gehört. Viele, mit denen er aufgewachsen war, hatten in den unzähligen Schlachten den Tod gefunden. Kein Wunder, dass er sein Überleben bedauert hatte, schließlich hatte der Orc die meisten seiner Blutsbrüder überlebt. Er begriff, dass seine Sehnsucht nach dem Tod auch aus seiner Einsamkeit entsprungen war.
Jarod blickte in die entgegengesetzte Richtung. „Die anderen sollten jeden Moment hier sein.“
Doch dieser Moment und einige hundert weitere kamen und gingen, ohne dass die erwarteten Soldaten auftauchten. Die Reiter wurden nervös. Ihre schlechte Laune übertrug sich auf die Nachtsäbler, die mit jeder verstreichenden Minute lauter fauchten und knurrten.
Schließlich hielt es Brox nicht mehr aus. Captain Shadowsong, der ebenfalls nach den verschwundenen Soldaten suchen wollte, hatte den Befehl noch nicht ausgesprochen, da ritt Brox bereits los.
Er lenkte sein Reittier die Straße entlang und forschte angespannt nach irgendwelchen Hinweisen. Rhonin und die Nachtelfen folgten ihm.
Trümmer bedeckten die Straße. Zerrissene Kleidung und alte Blutflecke bildeten die einzigen Farbkleckse im düsteren Nebel. Der Orc nahm seine Axt heraus und zwang sein Reittier weiter.
Brox entdeckte etwas Merkwürdiges. Er richtete sich im Sattel auf und sah sich aufmerksam um. Sein Verdacht bestätigte sich.
Es lagen keine Leichen am Boden, keine Nachtelfen, keine Dämonen. Auch die zu befürchtenden Leichen der Soldaten oder ihrer Reittiere waren nicht zu sehen.
Was war mit ihnen geschehen?, fragte sich Brox. Wieso war diese Straße nicht mit Opfern der Invasion bedeckt?
Ein Geräusch ließ den grünhäutigen Krieger zusammenzucken. Er drehte den Kopf nach rechts und sah eine Gestalt, die sich langsam aus dem Nebel schälte. Es war ein Soldat, aber er ging zu Fuß und hatte seine Waffe gezogen.
„Wo ist dein Reittier?“, fragte der Orc.