„Warum sollte ich nicht?“ Sein Bruder hatte sein mitternachtsblaues Haar wie immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, doch im Gegensatz zu sonst trug er jetzt eine offene schwarze Lederweste, eine schwarze Hose und ebenso schwarze hohe Stiefel. An der Weste steckte, direkt über seinem Herzen, ein Abzeichen, auf dem ein dunkler Vogelkopf inmitten eines roten Rings zu sehen war.
Die Kleidung war neu. Offenbar handelte es sich um eine Art von Uniform. Das Bild auf dem Abzeichen war das Wappen von Kur’talos Ravencrest, Illidans neuem Schutzherrn.
„Bei Sonnenuntergang wird Lord Ravencrest etwas verkünden, Bruder. Ich bin extra früh aufgestanden, damit ich dich finden und rechtzeitig zurückbringen kann.“
Wie die meisten Nachtelfen war auch Illidan daran gewöhnt, bei Tag zu schlafen. Malfurion hatte hingegen gelernt, das Gegenteil zu tun. Bei Tag konnte man am besten auf die Kräfte einwirken, die in der Natur vorhanden waren. Natürlich hätte er das Druidentum auch nachts studieren können, aber bei Tageslicht war die Verbindung zwischen den Elfen und dem Brunnen der Ewigkeit am schwächsten. Das senkte das Risiko, bei einem neuen Zauberspruch versehentlich auf diese Energie zurückzugreifen. Besonders in seiner Anfangszeit hatte Malfurion häufig dagegen ankämpfen müssen. Mittlerweile fühlte er sich bei Tag wohler als in der Nacht.
„Ich wollte mich ohnehin gerade auf den Rückweg machen“, sagte Malfurion und ging auf seinen Bruder zu.
„Es würde schlecht aussehen, wenn du nicht da wärst. Lord Ravencrest mag keine Verzögerungen oder Unzuverlässigkeit, vor allen Dingen nicht von denen, die einen wichtigen Bestandteil seiner Pläne darstellen. Das weißt du sehr gut, Malfurion.“
Die beiden Brüder hatten zwar gegensätzliche magische Richtungen eingeschlagen, beherrschten ihre Künste jedoch in gleichem Maße virtuos. Illidan hatte den Herrn der Black-Rook-Festung vor einem Dämon gerettet und war daraufhin zu dessen persönlichem Zauberer aufgestiegen, eine Position, die normalerweise von einem ranghohen Angehörigen der Mondgarde bekleidet wurde. In der Mondgarde versammelten sich die Meisterzauberer der Nachtelfen. Illidan hatte ebenfalls eine wichtige Rolle bei dem Sieg über die Dämonen im Westen gespielt. Er hatte nach dem Tod des Anführers der Mondgarde die Führung dieser besonderen Kämpfer übernommen und ihre Magie effektiv gegen die Angreifer eingesetzt.
„Ich musste Suramar verlassen“, widersprach Malfurion. „Ich fühlte mich eingeschlossen. Ich konnte den Wald nicht mehr spüren.“
„Die halbe Stadt besteht aus Gebäuden, die man aus lebenden Bäumen geschaffen hat. Wo ist der Unterschied?“
Wie sollte er Illidan die Eindrücke erklären, die mit jedem Tag stärker in seinen Geist eindrangen? Je tiefer Malfurion in seine magische Kunst eintauchte, desto deutlicher spürte er jeden Aspekt der wahren Welt. Draußen im Wald spürte er die Gelassenheit der Bäume, die Felsen, die Vögel… alles.
In der Stadt spürte er nur die fast wahnsinnige Aura, die sein Volk verursacht hatte. Die Bäume waren zu Häusern geworden, die Erde hatte man aufgerissen und die Felsen verschoben, um die Landschaft den Wünschen der Nachtelfen anzupassen. Nichts war mehr so, wie die Natur es erschaffen hatte. Die Gedanken der Bäume waren verwirrt und nach innen gekehrt. Sie verstanden sich nicht einmal mehr selbst und untereinander, so sehr hatte man sie verändert. Wenn Malfurion durch die Stadt ging, spürte er ihre Falschheit, auch wenn er wusste, dass sein Volk – ebenso wie die Zwerge und die anderen Arten – das Recht hatte, eine Zivilisation zu gründen. Es war kein Verbrechen, Unterkünfte zu bauen und das Land urbar zu machen. Tiere taten schließlich auf ihre Weise das Gleiche.
Und doch stieg sein Unwohlsein mit jedem Besuch.
„Lass uns zu den Reittieren gehen“, sagte Malfurion, ohne auf die Frage seines Bruders einzugehen.
Illidan grinste und nickte dann. Seite an Seite stiegen die Zwillinge den bewaldeten Hügel hinauf. In der letzten Zeit hatten sie sich nur noch wenig zu sagen, wenn sich ihre Gespräche nicht gerade um den Kampf drehten. Einst waren sie unzertrennlich gewesen, inzwischen pflegten sie mehr Umgang mit Fremden als miteinander.
„Der Drache will uns wahrscheinlich bei Sonnenuntergang verlassen“, sagte Illidan plötzlich.
Malfurion hatte nichts davon gehört. Er sah seinen Bruder überrascht an. „Wann hat er das gesagt?“
Zu den wenigen Verbündeten der Nachtelfen zählte Korialstrasz, ein gewaltiger roter Drache. Der junge, aber mächtige Leviathan galt als Gefährte der Drachenkönigin Alexstrasza. Er war mit einem von insgesamt zwei mysteriösen Reisenden aufgetaucht, einem silberhaarigen Magier namens Krasus. Korialstrasz und Krasus waren aus irgendeinem Grund eng miteinander verbunden, aber Malfurion hatte noch nicht herausgefunden, aus welchem. Er wusste nur, dass dort, wo der hagere bleiche Magier auftauchte, der Drache nicht weit war. Gemeinsam hatten sie sich als eine unaufhaltsame Streitmacht erwiesen, die Dämonen hinwegfegte und den Weg für die Armeen der Verteidiger ebnete.
Trennte man sie jedoch, schienen beide dem Tode nahe zu sein.
Malfurion hatte beschlossen, sich nicht in ihre Angelegenheiten einzumischen. Zum einen waren sie Verbündete der Nachtelfen, zum anderen respektierte und mochte er beide. Jetzt wollte Korialstrasz die Nachtelfen verlassen. Ein solcher Verlust kam einer Katastrophe gleich.
„Wird Meister Krasus mit ihm gehen?“
„Nein, er bleibt bei Meister Rhonin.“
Illidan sprach Rhonins Namen ebenso ehrfürchtig aus wie den von Malfurion Krasus. Der rothaarige Rhonin war gemeinsam mit dem älteren Zauberer aus einem unbekannten Land an diesen Ort gekommen. Manchmal, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen im Kampf gegen die Brennende Legion schilderten, sprachen sie kurz über ihre Herkunft. Rhonin kannte sich ebenso wie Krasus gut in den magischen Künsten aus, wirkte jedoch wesentlich jünger. Der bärtige Zauberer trug unauffällige blaue Reisekleidung, die fast so konservativ wie die von Malfurion war, aber das war nicht das Einzige, was ihn von seiner Umgebung unterschied. Krasus hätte als Nachtelf durchgehen können, obwohl er sehr blass und kränklich wirkte, aber der ebenso blasse Rhonin gehörte einem Volk an, das niemand kannte. Er bezeichnete sich selbst als Mensch, aber die Mondgarde vertrat die Meinung, es handele sich bei ihm wahrscheinlich um einen ungewöhnlich groß geratenen Zwerg.
Doch das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass Rhonin zu einem ebenso wichtigen Verbündeten wie Krasus und der Drache geworden war. Er benutzte die Magie des Brunnens mit einer Intensität und Kunstfertigkeit, über die selbst die Mondgarde staunte. Außerdem hatte er sich Illidans angenommen und ihn viel gelehrt. Illidan glaubte, der Fremde habe sein Talent erkannt, aber Malfurion wusste, dass Rhonin vor allem versuchte, den Leichtsinn seines Zwillings in den Griff zu bekommen. Allein gelassen neigte Illidan dazu, nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Kameraden aufs Spiel zu setzen.
„Das ist nicht gut, Illidan.“
„Natürlich nicht“, antwortete sein Zwilling, „aber wir müssen damit leben.“
Er hob seine Hand, die von einer roten Aura umgeben war. „Wir haben schließlich auch unsere Stärken.“
Die Aura verschwand. „Auch wenn du noch immer nicht alles einsetzt, was Cenarius dir beigebracht hat.“
Mit alles meinte er Zaubersprüche, die nicht nur die Feinde trafen, sondern auch die Landschaft, in der sie sich befanden und alle, die den Weg der Magie kreuzten. Illidan verstand immer noch nicht, dass das Druidentum mit der Natur arbeitete, nicht gegen sie.
„Ich tue, was ich kann. Wenn du – “
Malfurion konnte den Satz nicht beenden, denn im gleichen Moment setzte eine alptraumhafte Gestalt vor ihm auf dem Waldboden auf.
Der Teufelswächter öffnete sein Maul und brüllte. Seine brennende Rüstung strahlte keine Wärme ab, sondern eine Kälte, die der Nachtelf bis ins Innerste spürte. Der gehörnte Dämon hob sein Schwert und stürzte sich auf den nächst besten Gegner – auf Illidan.