Illidan hatte die Rückkehr des Magiers nicht gespürt. Das überraschte ihn. Er richtete sich auf und sagte: „Wir werden bereit sein.“
Er wollte sich abwenden, aber Ravencrest schüttelte den Kopf. „Ich habe dich noch aus einem anderen Grund zu mir befohlen. Du sollst erfahren, was der Magier entdeckt hat, doch das ist nur für deine Ohren bestimmt.“
Stolz stieg in Illidan auf. „Ich werde niemandem davon erzählen, Mylord, auch nicht der Mondgarde.“
„Zumindest, bis ich dir einen entsprechenden Befehl erteile. Nun höre, was Meister Rhonin zu berichten hatte… und denke gut darüber nach, wenn du das vermagst.“
Der Herr von Black Rook Hold erzählte von den schrecklichen Dingen, die Rhonin und seinem Trupp widerfahren waren. Der Zauberer hörte zuerst ungläubig, dann mit wachsendem Staunen zu. Allerdings reagierte er nicht mit dem Entsetzen, das Lord Ravencrest erwartet hatte. Stattdessen bewunderte Illidan zum ersten Mal die Verwegenheit der Dämonen.
„Das hätte ich nie für möglich gehalten“, sagte er, als der Adlige seinen Bericht beendet hatte. „Wie gut müssen sie die magischen Künste beherrschen.“
„Ja“, antwortete Lord Ravencrest. Er bemerkte Illidans morbide Faszination nicht. „Ihre dunklen und tödlichen Künste. Die dämonische Bedrohung ist damit noch einmal gestiegen. Selbst ihnen hätte ich eine so schreckliche Tat nicht zugetraut.“
Illidan sah das etwas anders. Die Hexenmeister der Dämonen waren so gut, dass ihre Phantasie keine Grenzen kannte. Sie schöpften ihre Fähigkeiten zur Gänze aus und taten alles, um ihr Ziel zu erreichen. Das Ziel an sich war nicht bewundernswert, die Leistungen der Zauberkundigen waren es durchaus.
„Ich wünschte, wir könnten einen Eredar gefangen nehmen“, murmelte er. Der Zauberer hoffte, er könne sich mit einem der Dämonen unterhalten, um herauszufinden, wie sich ihre Magie von der seinen unterschied.
„Einen gefangen nehmen? Sei kein Narr, Junge! Wir müssen sie sofort töten, wenn wir sie sehen – erst recht nach diesen Neuigkeiten. Mit jedem toten Hexenmeister sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns dem gleichen Grauen wie Meister Rhonin und seine Begleiter stellen müssen.“
Illidan unterdrückte die Hochachtung, die er für die Magier fühlte und fügte rasch hinzu: „Natürlich, Mylord. Das ist von größter Wichtigkeit!“
„Fürwahr, das ist es! Das war alles, Zauberer.“
Illidan verbeugte sich und zog sich unverzüglich zurück. Seine Gedanken kreisten aufgeregt um die Dinge, die er gerade erfahren hatte. Die Toten erwecken! Welche phantastischen Fähigkeiten beherrschten die Eredar wohl noch? Die beiden Magier schienen diese Kunst nicht zu beherrschen, sonst hätten sie doch sicherlich die Toten beider Seiten erweckt und gegen die Brennende Legion ins Feld geschickt.
Lord Ravencrest beging einen schrecklichen Fehler. Einen Feind besiegte man am leichtesten, indem man dessen Stärken auskundschaftete und sie den eigenen hinzufügte. Ausgestattet mit dem Wissen der Eredar und seinen eigenen, erprobten Fähigkeiten würde Illidan die Dämonen fast allein hinwegfegen können.
Dann würde Tyrande wohl endlich begreifen, dass er seinem Bruder überlegen war.
„Wenn ich nur von ihnen lernen könnte…“, flüsterte er. Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, sah er sich auch schon nervös um. Solche Worte durfte niemand hören. Doch er war allein, der nächste Soldat stand viele Schritte von ihm entfernt.
Mit frischem Selbstbewusstsein machte sich Illidan auf den Weg zur Mondgarde. Er hatte nachzudenken. Sehr viel nachzudenken.
Der Schatten zog sich von Illidan zurück und machte einen Bogen um Lord Stareyes Zelt. Trotz seiner Hufe bewegte sich der Schatten lautlos über den felsigen Untergrund. Die Wachen, die ihre Runden drehten, bemerkten ihn nicht, auch wenn er dicht an ihnen vorbeiging. Nur wenn er es wünschte, konnten andere ihn wahrnehmen.
Xavius grinste zufrieden. Er hatte nicht nur seinem ruhmreichen Herrn gedient, sondern auch seine eigene Rache eingeleitet. Der Bruder des Druiden war gezeichnet, sein Verfall hatte bereits begonnen. Die Fragen, Zweifel und Sehnsüchte schwelten in ihm. Illidan Stormrage würde sie zu einem Feuer entfachen. Es war nur eine Frage der Zeit.
Der Satyr schlich sich aus dem Lager zum Versteck der anderen. Selbst Archimonde kannte nicht den ganzen Plan, denn der ehemalige Nachtelf hatte nur Sargeras gegenüber Rechenschaft abzulegen. Archimonde und Mannoroth hatten keine Macht über ihn.
Xavius sehnte sich nach dem Tag, an dem Sargeras die Welt betreten würde, denn wenn alles nach Wunsch verlief, würde er es sein, der an der rechten Seite des Dämonenherrschers stand, während Archimonde und Mannoroth vor ihm niederknieten.
Der Schmerz weckte Krasus. Es war ein Schmerz, der durch seinen ganzen Körper loderte. Selbst das Atmen fiel beinahe unerträglich schwer.
„Ruhig, ruhig“, sang eine weibliche Stimme. „Du darfst noch nicht aufstehen.“
Er versuchte seine Augen zu öffnen, doch die Anstrengung war zu groß.
„Wer…?“
„Schlafe, schlafe…“ Ihre Stimme war reinste Musik. Etwas darin ließ den Zauberer vermuten, dass mehr als ein Mensch oder ein Nachtelf dahintersteckte.
Krasus wehrte sich gegen ihren Vorschlag, doch seine Stärke verließ ihn, und er schlief ein. Flugträume mischten sich in seine Gedanken. Er war wieder ein Drache, doch statt der Schuppen war er bunt gefiedert wie ein Vogel. Das interessierte den Magier nicht. Er genoss nur das Gefühl, durch die Lüfte zu gleiten.
Der Traum wollte nicht enden und lockte ihn mit seinen Versprechungen. Doch dann schüttelte jemand Krasus und riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Der Magier wollte den Störenfried verfluchen.
„Krasus! Ich bin es, Malfurion. Wacht auf!“
Der Drachenmagier kam mürrisch zu sich. „Ich bin ja schon hier, Druide.“
„Elune sei Dank. Ich hatte befürchtet, Ihr würdet auf ewig schlummern.“
Jetzt, da er wach war, erkannte Krasus, dass der Nachtelf ihm wahrscheinlich einen großen Gefallen erwiesen hatte. „Ich sollte wohl auch schlafen… zumindest bis unser Gastgeber zurückkehrt.“ Der hagere Magier sah sich um. „Vielleicht schlafe ich ja immer noch.“
Der Raum, in dem sie sich befanden, war groß und sah so merkwürdig aus, dass Krasus ihn näher in Augenschein nehmen wollte. Man hatte ihn aus unzähligen Ästen, Zweigen und anderen Materialien gebildet und mit Lehm abgedichtet. Die Decke war gewölbt. Der einzig sichtbare Eingang war ein Loch in der rechten Wand. Er blickte nach unten und bemerkte, dass seine Schlafstatt ebenfalls aus Ästen bestand. Darauf lag eine weiche Decke aus frischen, miteinander verflochtenen Blättern. Auf einem kleinen Tisch, der aus einem Baumstumpf bestand, lag eine außergewöhnlich große, mit Wasser gefüllte Nussschale. Krasus nahm an, dass das Wasser für ihn gedacht war und trank einen Schluck.
Dann setzte er seine Untersuchung fort. Seine Augen verengten sich, als sich ein Hindernis, das er für eine Innenwand gehalten hatte, als Beginn eines Ganges entpuppte. Durch die Krümmung des Raumes war der Gang beinahe unsichtbar, wenn man nicht direkt davor stand.
„Er ist sehr lang“, sagte Malfurion. „Ich habe einen zweiten, noch größeren Raum gefunden. Dahinter liegen noch zwei Kammern und einige Gänge. An dem Punkt habe ich umgedreht, um zu Euch zurückzukehren.“
„Eine weise Entscheidung.“ Krasus runzelte die Stirn. Sein feines Gehör nahm ein Geräusch von draußen wahr, das er nach einem Moment als Vogelzwitschern identifizierte. Er unterschied die Rufe mehrerer Arten, einige davon waren nahezu einzigartig.
„Was ist da draußen?“
„Das möchte ich nicht sagen, Meister Krasus. Ihr solltet es selbst sehen.“
Seine Neugier war geweckt. Krasus erhob sich und ging zu der Öffnung. Als er sich ihr näherte, wurde das Zwitschern lauter. Es schien, als niste dort draußen jede Vogelart der Welt…