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Krasus zögerte und warf einen neuerlichen Blick durch den Raum. Endlich erkannte er, dass ihn seine Umgebung an ein riesiges Vogelnest erinnerte.

Der Drachenmagier ahnte bereits, was er sehen würde, als er den Kopf durch die Öffnung streckte.

Anscheinend nistete tatsächlich jede Vogelart dort im Freien. Wo Krasus auch hinblickte, sah er gewaltige Laub bedeckte Äste, in denen sich Vögel ein Zuhause gebaut hatten. Auf den ersten Blick entdeckte er Tauben, Rotkehlchen, Meisen, Nachtigallen und andere. Es gab Vögel aus kalten und aus tropischen Regionen. Sie waren bunt gemischt und zwitscherten gemeinsam. Es gab Vögel, die Beeren fraßen, solche, die Fische fingen und sogar welche, die andere Vögel töteten. Letztere schienen jedoch zufrieden zu sein mit den Kaninchen und Eidechsen, die sie jetzt an ihre Jungen verfütterten.

Krasus sah nach oben und fand weitere Nester. Die Zweige dieses gewaltigen Baums waren voller Vögel aus allen Teilen der Welt.

Zwischen ihnen sah Krasus Spuren des seltsamen Konstrukts. Der Raum, in dem er und Malfurion sich befanden, war nur einer von Hunderten.

Das „Nest“ dehnte sich wie ein riesiger Ameisenhügel über die Äste aus. Der Magier schätzte, dass man die gesamte Streitmacht der Nachtelfen dort hätte unterbringen können – inklusive der Flüchtlinge. Die Räume wirkten filigran, mussten aber wesentlich robuster sein als sie aussahen. Der Wind, der durch die Äste strich, drückte sie zwar zur Seite, aber sie schwangen nur geschmeidig wieder zurück. Der Drachenmagier berührte den Rand des Eingangs und bemerkte, dass das Material einen stärkeren Zusammenhalt besaß als die Steine einer mächtigen Burg.

Dann blickte er endlich nach unten.

Konnte ein Drache unter Höhenangst leiden? Einen Moment zuvor hätte Krasus noch über diese Vorstellung gelacht. Doch jetzt hielt er sich krampfhaft an den Rändern der Öffnung fest und versuchte zu verarbeiten, was er sah.

„Meister Krasus!“ Malfurion zog ihn vom Eingang zurück. „Ihr wärt beinahe gestürzt. Verzeiht mir, ich hätte Euch vorwarnen sollen.“

Krasus atmete aus und gewann die Kontrolle über seine Sinne zurück. „Alles in Ordnung, mein Freund. Du kannst mich los lassen. Ich weiß jetzt, was mir bevorsteht.“

Krasus kehrte zur Öffnung zurück. Er umklammerte die Ränder und spähte erneut nach unten.

Der Baum und seine Äste erstreckten sich so weit er blicken konnte. Überall saßen oder nisteten Vögel. Krasus kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich, aber er konnte den Erdboden nicht erkennen. Große Wolken zogen vorbei, ein Beweis für die große Höhe, in der sie sich befanden.

Der Nachtelf tauchte neben ihm auf. „Ihr könnt den Boden ebenfalls nicht sehen, oder?“

„Nein, das kann ich nicht.“

„Ich habe noch nie von einem Baum gehört, der so hoch wächst, dass sich der Grund nicht mehr erkennen lässt.“

„Ich schon“, antwortete Krasus, während er in seinen verschütteten Erinnerungen bohrte. „Das ist… das ist G’hanir, der Mutterbaum. Dies ist die Heimstatt aller geflügelten Wesen. Sie befindet sich jenseits der Welt der Sterblichen, ist aber doch ein Teil von ihr, so wie der smaragdfarbene Traum. G’hanir ist der höchste Baum auf dem höchsten Gipfel. Seine Früchte tragen die Samen aller irdischen Bäume.“

Er dachte angestrengt nach. „Dies ist die Heimat unserer Gastgeberin… der Halbgöttin Aviana.“

„Aviana?“

„Ja.“ Eine flüchtige weiße Gestalt, die in ihre Richtung flog, erregte seine Aufmerksamkeit. „Und offenbar ist sie gerade auf dem Weg zu uns.“

Die geflügelte Gestalt wurde rasch größer und entpuppte sich schließlich als gewaltiger Falke, der den Nachtelf und den Drachenmagier überragte. Krasus zog den Nachtelf zurück und gab den Eingang frei.

Der riesige Falke flatterte ins Innere und begann sich zu verwandeln. Seine Beine wurden länger und kräftiger. Die Flügel schrumpften, bis sie zu schlanken, gefiederten Händen wurden. Der Körper veränderte seine Form, wurde weiblicher und humanoider. Der Schwanz verwandelte sich in die Schärpe eines Seidengewands.

Eine schlanke Frau, die dank ihrer runden Augen beinahe menschlich wirkte, betrachtete sie. Ihre Nase war spitz und schmal. Sie hatte ein elfenbeinfarbenes anmutiges Gesicht, und anstelle von Haaren war ihr Kopf von einem dichten Federkleid bedeckt. Ihr Gewand flatterte bei jedem Schritt und enthüllte zwei schlanke, aber mit scharfen Klauen versehene Füße.

„Wach, wach bist du“, sagte sie mit leichtem Stirnrunzeln. „Du solltest ausruhen, ausruhen.“

Krasus verneigte sich vor ihr. „Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Mylady, aber mir geht es gut. Ich kann meine Reise fortsetzen.“

Sie legte den Kopf schräg, so wie es Vögel taten, und sah den Magier strafend an. „Nein, nein… zu früh, zu früh. Bitte setz dich.“

Die beiden sahen sich um und entdeckten zwei Stühle, die aus dem gleichen Material bestanden wie der Rest des Nestes. Malfurion wartete Krasus’ Reaktion ab. Als er sich setzte, folgte er seinem Beispiel.

„Ihr seid die Mutter des Flugs, die Herrin der Vögel, richtig?“, fragte der Drachenmagier.

„Ich bin Aviana, wenn du das meinst.“ Aus großen Augen betrachtete sie Krasus. „Und du bist einer der meinen, einer der meinen, wenn ich Recht habe.“

„Ja, Mylady, ich kenne den Rausch der Lüfte. Meine Seele gehört Alexstrasza…“

„Aaah…“ Die Halbgöttin lächelte mütterlich. „Liebe, liebe Alexstrasza… unser letztes Gespräch liegt lange zurück. Das sollten wir ändern.“

„Ja.“ Krasus wies sie nicht darauf hin, dass dies eine schlechte Zeit für Besuche sei. Er zweifelte nicht daran, dass Aviana genau wusste, was in der Welt geschah und dass sie trotz ihrer scheinbaren Abgehobenheit mit den anderen Halbgöttern und Geistern über ein gemeinsames Vorgehen gegen die Brennende Legion diskutierte.

Die Luftgottheit sah den Nachtelfen an. „Du, du gehörst zu Cenarius…“

„Mein Name ist Malfurion.“

Aviana zwitscherte und klang dabei wie eine Nachtigall. „Natürlich, natürlich ist das dein Name. Cenarius spricht wohlwollend über dich, Junge.“

Der Druide errötete.

Eine Frage brannte auf Krasus’ Zunge, also stieß er hervor: „Mylady, wieso sind wir hier?“

Zum ersten Mal wirkte sie überrascht. „Natürlich, weil du hierher kommen wolltest, wolltest.“

Krasus konnte sich nur noch an den Wurm erinnern, der knapp hinter ihnen auf das Tor zugeschossen war. Er sah den Nachtelf an und bat mit Blicken um eine Erklärung, doch dieser schien noch weniger zu wissen als er. „Ihr sagt, ich hätte uns hierher geschickt?“

Aviana hob eine feingliedrige Hand. Ein bunter Singvogel flatterte durch den Eingang hinein, ließ sich auf ihrem Handrücken nieder und rieb seinen Kopf an ihrem Hals.

„Nur die, die es wirklich wünschen, können hierher gelangen. Dieser Vogel hier hat euch auf den Ästen liegend gefunden, gefunden. Um euch herum lagen die Fleischbrocken eines sehr großen und wohlschmeckenden Wurms. Die Kinder werden sich lange Zeit daran erfreuen.“

Malfurion sah aus, als würde ihm übel. Der Magier nickte. Als er das Bewusstsein verlor, hatte sich das Portal geschlossen und den Wurm in zwei Hälften gespalten.

Krasus ignorierte seinen Ekel und sagte: „Ich bedauere, Mylady, aber wir sind tatsächlich wegen eines Fehlers hierher gelangt. Der Zauber, den ich aussprach, verlief nicht wie gewünscht.“

Ihr kleiner Mund lächelte erneut. „Also möchtest du nicht wieder fliegen, fliegen?“

Krasus verzog das Gesicht. „Es gibt nichts, das ich lieber täte.“

„Dann ist dies, ist dies der Grund eurer Anwesenheit.“

Der Drachenmagier dachte über ihre Worte nach. Seine Sehnsucht nach seiner früheren Existenz hatte anscheinend seinen Zauber beeinflusst. Das hatte Aviana gespürt. „Aber du kannst nichts für mich tun.“

„So traurig, so traurig.“ Die Halbgöttin ließ den Singvogel fliegen. „Aber vielleicht, vielleicht kann ich… wenn du wirklich abreisen möchtest.“