Sie blickte missmutig in die Zukunft, fühlte sich mehr gefangen denn geehrt.
Ein plötzliches Stöhnen aus dem Flüchtlingslager unterbrach ihre Gedanken. Tyrande erkannte, was das Stöhnen bedeutete. Sie hatte ähnliche Laute schon zu oft gehört. Jemand litt unter furchtbaren Schmerzen.
Die Zeremonie musste warten. Die Rituale mussten warten. Tyrande war dem Orden vor allem aus einem Grund beigetreten – um anderen durch die Geschenke Elunes zu helfen.
Die neue Hohepriesterin ging auf die Quelle des Stöhnens zu, um ihrer eigentlichen Berufung zu folgen.
18
Die Königin hatte beschlossen auszureiten, und wenn Azshara etwas beschloss, konnten auch alle Dämonen der Welt sie nicht umstimmen… was bedeutete, dass Captain Varo’then erst recht keine Chance hatte, sie daran zu hindern.
Sie hatte den Palast vor langer Zeit zum letzten Mal verlassen. Jetzt waren sie und ihre Zofen von riesigen Leibwächtern und einem zusätzlichen Trupp Soldaten umgeben, als sie die Palasttore hinter sich ließen und in die Stadt ritten.
In die Ruinen der einstigen Stadt.
Seit ihrer Zerstörung hatte die Herrin der Nachtelfen Zin-Azshari nicht mehr betreten. Ihre Blicke glitten über die vernichteten Häuser, die schuttbedeckten Straßen und die Leichen, die gelegentlich noch fast unversehrt zwischen den Trümmern lagen, weil es keine Aasfresser mehr gab. Azshara schürzte die Lippen und zog die Nase kraus. Offenbar gab es hier einen Geruch, der ihr missfiel.
Varo’then starrte ungehalten auf die Ruinen. Nichts durfte seine Königin verstören. Wenn er die Zerstörungen mit seinem Schwert hätte beseitigen können, so wie man sich eines Feindes entledigte, hätte er es getan.
Eine Teufelsbestie tauchte hinter einem zusammengestürzten Turm auf. Ihre mächtigen Kiefer zermahlten etwas. Sie schmatzte laut, als die Königin und ihre Eskorte vorbeiritten, dann verschwand sie wieder in ihrem Versteck.
Schweigend ritten sie durch die Stadt. Azshara sagte nichts, also wagte auch kein anderer zu sprechen. Die Teufelswächter blieben dicht neben ihr, obwohl keine Bedrohung auszumachen war. Die Dämonen waren der Königin ebenso ergeben wie ihre Soldaten. Hätte sie von ihnen verlangt, ihre eigenen Artgenossen anzugreifen, hätten sie ihr vermutlich gehorcht. Natürlich würde Azshara das nie von ihnen verlangen, denn es gab nur einen, den sie niemals – unter keinen Umständen – erzürnen wollte, und das war Sargeras, der Herr der Brennenden Legion.
„Glaubst du, dass es bald so weit ist, mein lieber Captain?“, fragte sie.
Der Offizier war verwirrt. „Licht der Lichter?“
„Dass er zu uns kommt, Captain. Zu uns.“
Varo’then nickte sofort. „Oh ja, meine Königin, sehr bald. Mannoroth sagt, dass das Portal mit jeder Nacht stärker wird.“
„Er muss wahrlich der Gott unter den Göttern sein, wenn er ein so starkes Tor benötigt.“
„Wenn Ihr das sagt, meine Königin.“
„Er muss… glorreich sein“, murmelte Azshara in einer Weise, die sie sonst für sich selbst beanspruchte.
Der vernarbte Nachtelf nickte und versuchte, seinen Neid zu verbergen. Niemand konnte sich mit einem Gott messen.
Über der Stadt lag der gleiche grüne Nebel, der fast ganz Kalimdor bedeckte. Azshara genoss den Anblick, denn er ließ ihre Stadt mysteriöser wirken, während er gleichzeitig Dinge vor ihr verbarg, die ihr vielleicht missfallen hätten. Wenn die Welt neu erschaffen war, würde sie Sargeras bitten, den Nebel zu lüften. Bis dahin gefiel er ihr.
Azshara sah sich um, als sie einen offenen Platz erreichten. Sie zog die Zügel ihres Nachtsäblers an und brachte ihn zum Stehen. Dann streichelte sie seinen Nacken, um ihn zu beruhigen. Alles im Palast hatte sich durch Sargeras verändert, und die Tiere bildeten keine Ausnahme. Die großen Katzen hatten jetzt rote wilde Augen. Sie hätten jeden Artgenossen, der nicht dem königlichen Stall entstammte, mit großer Freude angegriffen und zerrissen.
„Der Captain und ich werden ein paar Minuten allein weiterreiten.“
Weder die Nachtelfen noch die Dämonen wirkten erfreut über diesen Befehl… abgesehen von Varo’then natürlich. Er sah seine Männer an und knurrte: „Befolgt den Befehl der Königin!“
Die Eskorte gehorchte und blieb zurück, während er und die Königin weiterritten.
Azshara schwieg, bis sie außer Hörweite waren. Dann lächelte sie Varo’then an. „Verläuft alles zufrieden stellend?“
„Was meint Ihr damit?“
Die Königin blickte zum Horizont. „Die Säuberung meines Reiches. Müsste sie nicht längst vollzogen sein?“
„Archimonde wird dafür sorgen, meine Königin.“
„Aber ich hätte das gerne erledigt, bevor Sargeras eintrifft. Wäre das nicht ein wundervolles Geschenk für meinen… Zukünftigen?“
Varo’then unterdrückte seine Gefühle mühsam. Er schluckte seine Eifersucht herunter und sagte: „Ein wahrhaft wundervolles Geschenk. Er wird es erhalten.“
„Und warum verzögert es sich noch?“
„Dafür gibt es viele Gründe. Logistik – “
Sie beugte sich vor und gewährte ihm einen Blick auf ihren Körper. „Mein lieber, lieber Varo’then. Sehe ich denn tatsächlich aus wie du? Wie ein harter, muskulöser Soldat?“
Seine Wangen erröteten. „Nein, Vision der Vollkommenheit.“
„Dann gebrauche bitte nicht diese militärischen Begriffe. Zeige mir einfach, was du meinst.“
Azshara hob ihre Handfläche, auf der ein kleiner Kristall erschien. Er war anfangs kaum größer als eine Erbse, wuchs jedoch, bis er groß wie eine Melone war. Er leuchtete so hell wie der volle Mond.
„Wirst du mir diesen Gefallen erweisen?“
Der Soldat nahm den Kristall aus ihrer Hand und konzentrierte sich. Zwar war er kein mächtiger Zauberer wie die Hochwohlgeborenen, aber er beherrschte die Grundlagen der magischen Künste. Der Kristall reagierte auf seine Gedanken und verwandelte sie in Bilder.
„Ihr fragt mich, warum sich die Angelegenheit verzögert, meine Königin. Nun, hier sind einige Gründe dafür.“
In seiner Erinnerung entstand das Bild eines rothaarigen Wesens, das Azshara fremd vorkam. Sie betrachtete es mit leuchtenden Augen.
„Er sieht gut aus… für einen Fremden. Definitiv männlich.“
„Ein mächtiger Zauberer.“ Das Gesicht verschwand und wurde durch das eines älteren Mannes ersetzt.
„Warum zeigst du mir diesen Geist?“
„Das ist kein Geist. Trotz seiner blassen Hautfärbung lebt dieses Wesen. Als wir ihm begegneten, stellte er keine Gefahr dar, aber ich glaube, dass er zu diesem Zeitpunkt an einer Krankheit litt. Vor kurzem haben meine Spione ihn jedoch in Begleitung eines Drachen gesehen.“
Das beeindruckte die Königin. „Eines Drachen?“
„Ja, und die beiden haben Archimondes Kriegern große Probleme bereitet. Mittlerweile sind sie verschwunden, aber ich befürchte, dass sie zurückkehren werden.“
„Dann ist er wohl doch kein Geist“, entgegnete Azshara, während sie die blasse Erscheinung betrachtete, die an einen Nachtelf erinnerte. „Und nur sie verhindern die Vollkommenheit meiner Welt?“
Captain Varo’then schnaufte. „Auch einige aus unserem Volke sorgen dafür. Sie sind fehlgeleitet. Ihre Abbilder sind unscharf, weil sie mir nur über andere zugetragen worden sind.“
Azshara betrachtete die neuen Gesichter. Einer der beiden Nachtelfen hatte seine Haare zu einem Zopf zusammengebunden und trug schwarze Kleidung. Der andere hatte das Haare offen und schien erdfarbene Kleider zu bevorzugen. Beide Gesichter ähnelten sich so sehr, dass die Königin im ersten Moment glaubte, sie stellten ein und dieselbe Person dar.
„Es sind Zwillinge“, stellte Varo’then klar. „Brüder.“
„Zwillinge… wie interessant.“ Sie strich mit dem Finger über die Bilder. „Aber sie sind so jung… sicherlich sind sie keine Anführer.“
„Sie sind mächtige Zauberer, aber sie führen die Rebellion nicht an. Diese Aufgabe hat der ehrenwerte Lord Ravencrest übernommen.“
„Mein lieber Kur’talos… ich habe ihn stets bevorzugt behandelt, und so dankt er es mir nun.“