Oder?
Stareye wies mit der Hand nach vorne, um die Richtung zu zeigen, doch im gleichen Moment geriet ein wenig Staub in Rhonins Auge. Der Magier wandte sich ab und blinzelte. Überrascht bemerkte er Ravencrests Banner, das hinter ihm im Wind flatterte.
„Da ist er!“, rief Rhonin.
„Nein, ich glaube…“ Stareye unterbrach sich, als er dem Blick des Magiers folgte. Rhonin trieb indessen bereits sein Reittier an, lenkte es Ravencrests Position entgegen. Er bewegte sich gegen den Strom der Soldaten und ließ sich nicht davon mitreißen. Noch war nicht alles verloren. Wenn er Ravencrest erst einmal…
Gebrüll kam an der Front auf. Hörnerschall erklang, Trommeln wurden geschlagen. Die Gesichter rund um Rhonin erblassten.
„Was ist los?“, rief er einem Soldaten zu, der aber nicht antwortete.
Rhonin blickte wieder zur Front. „Nein…!“, stieß er entsetzt hervor.
Die Hügel waren voller Dämonen, die den Nachtelfen entgegenstürmten. Das allein hätte Rhonin nicht geängstigt, aber er sah andere Dämonen, brennende, monströse Kreaturen, die sich wie eine Flut über die Felsen ergossen. Aus dem diesigen Himmel regneten Geschosse auf die Streitmacht herab. Sie sahen aus wie Felsbrocken, in Wirklichkeit jedoch handelte es sich um Höllenbestien.
Eine solch große Streitmacht konnte nicht in so kurzer Zeit durch das Portal gekommen sein, das wurde Rhonin klar, während er voller Entsetzen das endlos erscheinende Heer betrachtete. Es gab nur eine Erklärung: Archimonde hatte die Heere aus ganz Kalimdor hier zusammengezogen, weil er wusste, dass ihm nur die Nachtelfen ernsthaft gefährlich werden konnten.
Sein geschickter Schachzug war erfolgreich gewesen. Jetzt war sein Gegner genau dort, wo er ihn haben wollte.
Die Stimmen in Neltharions Kopf flüsterten aufgeregt. Der schwarze Drache hörte ihnen angespannt zu, obwohl sie immer wieder das Gleiche verkündeten:
Die Zeit ist gekommen…
Die Zeit ist gekommen…
Die Zeit ist gekommen…
Er hob die Drachenseele empor und blickte über ihren Rand hinweg auf die anderen Aspekte.
„Es ist so weit“, donnerte er.
Die anderen nickten verstehend und verließen nacheinander die große Höhle. Erst als Neltharion mit den Stimmen allein war, wagte er es, die Wahrheit auszusprechen:
„Meine Zeit ist gekommen.“
Nur Minuten später strömten die Leviathane aus allen Klüften und Höhlen. Einige kletterten aus dem Erdboden hervor, andere sprangen vom Berggipfel. Aus jedem erdenklichen Ausgang quollen Drachen.
Es war Zeit zu handeln.
Nie zuvor in der Geschichte der Welt hatten sich so viele Drachen an einem Ort befunden. Als sie sich in die Lüfte erhoben, gab es etliche, die beinahe ehrerbietig auf den Anblick reagierten, den sie zusammen mit den anderen boten. Rote Drachen flogen neben Bronzefarbenen und Grünen. Blaue und Schwarze tauchten als dunkle Tupfer zwischen ihnen auf. Die fünf großen Clans waren zu einem einzigen geworden.
Es gab Drachen, deren Flügel den Himmel zu umspannen schienen und gegen die andere wie Motten wirkten. Doch jeder, egal ob alt oder jung, musste mitfliegen. So hatten es die Aspekte beschlossen.
Die ersten Drachen, die aufstiegen, flogen jedoch nicht direkt auf das Land der Nachtelfen zu. Stattdessen kreisten sie hoch über den Bergen und warteten auf die anderen. Der Himmel war voll von ihnen. Sie flogen übereinander und untereinander, um Kollisionen zu vermeiden.
Immer mehr Drachen kamen aus den Bergen. Wer sie sah, musste glauben, das Ende der Welt stehe vor der Tür, und vielleicht war es ja auch so. Die Leviathane realisierten das Böse, das von den Dämonen ausging. Im Angesicht einer solchen Bedrohung durfte sich niemand dem Kampf verweigern. Einer nach dem anderen brüllte leidenschaftlich in Erwartung der kommenden Schlacht.
Dann erschienen auch die Aspekte: Alexstrasza, die Rote, die Mutter des Lebens; Malygos, der Blaue, der Hexenmeister; die grüne Ysera, Herrin der Träume; und da Nozdormu, der Zeitlose abwesend war, hatte seine älteste Gefährtin seinen Platz eingenommen.
Erst, als alle versammelt waren, zeigte sich Neltharion, der schwarze Drache und Erdwächter.
Die winzige Scheibe leuchtete hell und zog trotz ihrer schmucklosen Erscheinung die Aufmerksamkeit der Drachen auf sich. Neltharion brüllte, als er sich in die Luft erhob. Sein Ruf hallte über die Bergkette.
Die anderen Drachen folgten Neltharion. Die Zeit der Abrechnung war gekommen. Sie alle hatten einen Teil ihrer selbst gegeben, um die gewaltigste Waffe aller Zeiten zu erschaffen. Und sollte sie nicht ausreichen, um den Gegner zu bezwingen, blieben ihnen immer noch ihre Klauen und Zähne.
Würde aber auch das nicht ausreichen, gab es keine Hoffnung mehr.
Tyrande hörte die Rufe und den Hörnerklang. Sofort begriff sie, was geschehen war. Die Schlacht hatte eine neue, unvorhergesehene Wendung genommen. Die Dämonen schlugen mit aller Härte zurück.
Sie entschuldigte sich hastig bei dem Verwundeten, den sie geheilt hatte und sprang auf ihren Nachtsäbler. Shandris, die bereits im Sattel saß, machte rasch Platz für sie. Dann ritten sie los, um nach den anderen Schwestern zu suchen.
Die meisten warteten bereits auf ihr neues Oberhaupt. Dazu zählten nicht nur die Priesterinnen, die man Tyrande ursprünglich zugeteilt hatte, sondern auch viele ältere. Alle knieten nieder oder verbeugten sich, als sie sich ihnen näherte.
„Bitte lasst das“, sagte Tyrande, die sich bei dem Anblick unwohl fühlte. „Das ist überflüssig.“
„Wir erwarten deine Weisungen“, antwortete Marinda respektvoll.
Vor diesem Moment hatte sich Tyrande gefürchtet. Sie wusste, wie man Hilfe für Flüchtlinge und verletzte Soldaten organisierte, aber die Schwestern in den Kampf zu schicken, war etwas völlig anderes.
„Wir müssen…“ Sie unterbrach sich und bat Mutter Mond stumm um ihren Beistand. „Wir müssen uns aufteilen, um die schwächsten Bereiche der Front zu unterstützen… aber nicht alle. Ein Drittel von uns bleibt in den hinteren Reihen und kümmert sich um die Verwundeten.“
Einigen Schwestern schien das nicht zu gefallen. Sie wollten vorne mitkämpfen. Tyrande verstand das, aber sie wusste auch, dass die Schwesternschaft trotz der verzweifelten Schlacht nicht die anderen Gaben ihres Tempels vergessen durfte.
„Wir benötigen Heilerinnen für die Soldaten. Jeder Streiter, der an die Frontlinie zurückkehren kann, ist ein Gewinn. Bedenkt auch dies: Die Schwesternschaft der Elune darf nicht aussterben. Wenn wir alle kämpfen und vielleicht dabei umkommen, wer wird dann noch da sein, um ihre Lehren und ihre Liebe zu verbreiten?“ Tyrande ver4suchte nicht daran zu denken, dass es vielleicht schon bald niemanden mehr geben würde, dem man die Lehren der Elune vermitteln konnte. Die Dämonen würden daran wohl kein Interesse finden.
„Wir hören und gehorchen“, sagte eine ältere Priesterin. Die anderen nickten.
„Marinda, du wirst die Gruppe der Heilerinnen leiten.“
„Ja, Mylady.“
Tyrande fuhr fort: „Sollte ich sterben, wirst du meine Position einnehmen.“
Die Nachtelfe sah sie entsetzt an. „Tyrande…“
„Die Kette darf nicht unterbrochen werden. Das habe ich begriffen. Ich hoffe, du begreifst es auch.“
„Ich…“ Marinda unterbrach sich. „Ja, das tue ich.“ Ihr Blick glitt über die anderen Priesterinnen. Ebenso wie Tyrande vor ihr dachte nun sie darüber nach, wer ihre Stelle einnehmen würde, wenn sie fiel.
Die neue Hohepriesterin atmete tief durch. Vielleicht hatte sie ihre Entscheidungen übereilt getroffen, doch mit diesen Zweifeln konnte sie sich jetzt nicht beschäftigen. Die Schwestern wurden gebraucht. Elune wurde gebraucht.
„Das ist alles… Möge das weise Licht von Mutter Mond eure Pfade erhellen.“
Es war eine uralte Abschiedsfloskel. Tyrande blieb zurück, während die meisten Schwestern sich abwandten und zu ihren Posten gingen. Die Gruppe, die ihr zugeteilt war, stieg auf die Nachtsäbler.