Eine Schwester sah Tyrande an. „Mylady, was ist mit ihr?“
„Ihr?“ Sie blinzelte. Sie hatte sich so an Shandris gewöhnt, dass sie erst jetzt erkannte, dass das Mädchen sie nicht begleiten konnte.
Shandris schien zu wissen, was sie sagen wollte, denn sie hielt die Zügel mit beiden Händen fest. „Ich komme mit dir!“
„Das geht nicht.“
„Ich kann mit einem Bogen umgehen. Mein Vater hat mir das beigebracht. Ich bin bestimmt so gut wie die da!“
Trotz des bevorstehenden Kampfes mussten die Schwestern über so viel Trotz schmunzeln.
„Wirklich so gut?“, scherzte eine.
Tyrande nahm Shandris’ Hand. „Nein, du bleibst hier.“
„Aber – “
„Steig ab, Shandris.“
Die Waise stieg ab. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie sah Tyrande aus großen Augen an und löste damit Schuldgefühle bei der Priesterin aus.
„Ich bin bald zurück, Shandris. Du weißt, wo du warten musst.“
„Ja… Mylady.“
„Kommt“, sagte Tyrande zu den anderen. Elune hatte sie für ihre Rolle auserkoren, also musste sie damit leben und ihre Pflichten so gut wie möglich erfüllen. Dazu gehörte auch, dass sie so viele Schwestern am Leben erhielt, wie Mutter Mond ihr erlaubte.
Selbst wenn sie sich selbst dafür opfern musste.
Shandris sah ihnen nach. Ihr Gesicht war tränennass, und sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ihr Herz schlug im Rhythmus der Kriegstrommeln.
Als sie es nicht mehr aushielt, lief sie den Priesterinnen hinterher.
19
Obwohl Krasus behauptet hatte, Korialstrasz würde schon bald zu ihnen stoßen, bestand er darauf, in Richtung der Schlacht zu ziehen. Dies tat er nicht, weil er glaubte, die Reise damit verkürzen zu können. Selbst ein alter kranker Drache hätte diese Strecke in wenigen Minuten zurückgelegt. Der junge – und dank des Druiden gesunde – Korialstrasz würde nur eine brauchen.
Nein, sie gingen in diese Richtung, weil der Drachenmagier nur so seine Ungeduld unter Kontrolle halten konnte. Er wollte die Reise unbedingt beschleunigen. Aber nach der letzten Katastrophe wagte er nicht, ein neues Portal zu öffnen. Also konnte er nur auf sein jüngeres Ich warten. Doch das fiel ihm schwer, denn die Ereignisse spitzten sich zu. Korialstrasz musste sie so schnell wie möglich zum Schlachtfeld bringen, dann hatten sie vielleicht noch eine Chance.
„Meister Krasus!“, unterbrach der Nachtelf seine Gedanken. „Hinter uns ist etwas.“
Er drehte sich um und betete, dass es kein weiterer Wächter Neltharions war. Eine gewaltige Gestalt flog ihnen in gerader Linie entgegen, hatte sie offensichtlich entdeckt. Krasus spürte, wie etwas seinen Geist berührte. Er lächelte. „Es ist Korialstrasz.“
„Welch ein Glück!“
Die Schwingen des roten Riesen schlugen kraftvoll. Mit jeder Bewegung schien er Meilen zu überbrücken. Korialstrasz wurde rasch größer. Bald schon konnte man sein Gesicht erkennen. Er wirkte sehr erleichtert.
„Da seid ihr ja!“, rief der Drache, als er hinter ihnen landete. „Mein Flug schien ewig zu dauern, obwohl ich mich beeilt habe.“
„Ich freue mich, dich zu sehen“, sagte der Magier.
Korialstrasz neigte den Kopf und betrachtete Krasus eingehend, so als sähe er ihn zum ersten Mal. „Ist es wirklich wahr?“
Krasus begriff sofort, was die Frage bedeutete. Korialstrasz wusste nun offenbar, wen und was er wirklich darstellte.
„Ja“, antwortete er. „Es ist wahr.“
„Und du…“ Der Drache wandte sich an Malfurion. „Ich stehe für immer in deiner Schuld, Nachtelf.“
„Das tust du nicht.“
Der Leviathan schnaufte. „Das behauptest du. Du bist ja nicht beinahe gestorben.“
Krasus’ Augen wurden schmal. „Du wurdest angegriffen, nicht wahr?“
„Ja, von zwei Schergen des Erdwächters. Sie waren vom Wahnsinn befallen. Ich konnte einen töten, aber der andere hat mich erwischt. Er ist aber jetzt auch tot.“
„Das hatte ich befürchtet.“ Der Magier konnte nicht mehr sagen. Der Zauber hinderte ihn daran. Frustriert wandte er sich einem Thema zu, über das er sprechen konnte. „Wir müssen zu Rhonin und den anderen zurückkehren. Kannst du uns zu ihnen bringen?“
„Steigt auf, dann machen wir uns auf den Weg.“
Die beiden folgten der Aufforderung. Sie ließen sich auf seinen Schultern nieder, dann spreizte Korialstrasz die Flügel und hob vorsichtig ab. Zweimal kreiste er über die Ebene, dann flog er der Schlacht entgegen.
Während des Fluges sah sich Krasus ständig um. Er befürchtete, jeden Moment würden die Drachen hinter ihm auftauchen. Doch noch waren sie nicht zu sehen. Das gab ihm Hoffnung. Vielleicht gelang es ihm ja, Neltharions Verrat abzuwenden, bevor es zu spät war. Wenn man die Scheibe aufhielt – oder besser noch, wenn jemand sie benutzte, der den Makel des Bösen noch nicht in sich trug –, konnten die Dämonen besiegt und sein Volk vor seinem langen Abstieg bewahrt werden.
„Wir müssen gleich da sein“, rief Malfurion. „Der Himmel zieht sich zu.“
Kurz darauf drangen sie in den dichten grünen Nebel ein, der die Dämonen stets umgab. Korialstrasz flog so tief, dass sein Körper beinahe über den Boden schrammte. Eine Weile hielt er das durch, dann wurde der Flug zu anstrengend. „Ich muss höher steigen. Vielleicht endet der Nebel dort oben irgendwo.“
Die drei stiegen durch den Nebel aufwärts. Krasus kniff die Augen zusammen, konnte aber trotz aller Bemühungen nicht weiter als bis zum Kopf seines jüngeren Ichs sehen. Bei dieser schlechten Sicht musste sich Korialstrasz auf seinen Geruch und andere Sinne verlassen.
„Das muss doch irgendwann aufhören“, fluchte der Drache. „Ich werde das Schlachtfeld finden, und wenn ich – “
Eine geflügelte Gestalt erschien plötzlich vor ihnen. Es war eine Verdammniswache, die im Nebel verschwand, als sie den Drachen sah.
Korialstrasz setzte sofort zur Verfolgung an. Krasus und Malfurion mussten sich festhalten.
„Lass sie in Ruhe!“, rief der Magier. „Die Schlacht ist wichtiger!“
Doch der starke Wind, den Korialstrasz’ Flügel auslösten, riss ihm die Worte vom Mund. Krasus schlug seine Faust in den Nacken des Drachen, aber die Schuppen waren so dick, dass Korialstrasz nichts davon bemerkte.
„Soll ich einen Zauber versuchen?“, rief Malfurion. „Damit wir seine Aufmerksamkeit erregen?“
Krasus hatte die gleiche Idee gehabt, sich aber dagegen entschieden. „Wenn wir ihn erschrecken, zuckt er vielleicht und wirft einen von uns ab. In diesem dichten Nebel würde er uns bei einem Sturz nicht auffangen können.“
Die beiden überließen Korialstrasz schweren Herzens seiner Verfolgung. Sie hofften, dass der Drache den Dämon entweder rasch fand oder aufgab. Doch Krasus wusste, wie hartnäckig er in jungen Jahren gewesen war. Daher befürchtete er, dass Korialstrasz nicht so schnell aufgeben würde. Seine Sturheit war ein Problem.
Der Magier runzelte die Stirn. Die Verdammniswachen waren sehr listig und konnten sich im Nebel besser orientieren als ihre Feinde. Der Dämon hätte Korialstrasz, dem die Suche sichtlich schwer fiel, längst abschütteln können. Warum flog er nur einen so geraden Kurs?
Krasus erkannte plötzlich die Ursache für diese Taktik. „Malfurion, pass auf! Wir werden gleich angegriffen!“
Der Druide sah sich um und suchte im Nebel nach einem Feind.
Eine Sekunde später sah er mehr als ihm Recht war.
Die geflügelten Krieger stürzten sich von allen Seiten auf die drei. Ein halbes Dutzend stieg unter Krasus auf und griff die Brust und den Bauch des Drachen an. Andere stießen von oben herab und versuchten die beiden Reiter entweder zu töten oder vom Rücken des Drachen zu werfen. Weitere Verdammniswachen tauchten vor und hinter ihnen auf.
Korialstrasz brüllte und sandte seinen Angreifern einen Feuerstoß entgegen. Die meisten Dämonen flatterten rechtzeitig zur Seite. Nur einen erwischte er und verbrannte ihn sekundenschnell zu Asche.