Hinter Krasus atmete Malfurion tief durch. „Hoffentlich muss ich so etwas nie wieder erleben. Nachtelfen sind nicht zum Fliegen geboren.“
„Nach dieser Reise kann ich deine Gefühle gut verstehen.“ Krasus betrachtete den vor ihnen liegenden Weg. „Das kommt mir sehr vertraut vor… und bereitet mir Sorge.“
„Was ist denn jetzt los? Noch mehr Dämonen?“
„Das wäre ein simples Problem, Druide. Dieses hier ist, fürchte ich, wesentlich komplexer.“
„Was meinst du damit?“
„Beachte diesen Keil aus klarer Luft, der sich in den fauligen Nebel der Brennenden Legion schiebt.“
„Vielleicht steht mein Volk kurz vor dem Sieg, und das ist ein erstes Omen…“
Krasus hätte Malfurions Optimismus gern geteilt. Er hob den Kopf und atmete ein, so wie der Orc es manchmal tat. Doch was der Magier in der Luft wahrnahm, überwältigte ihn beinahe und bestätigte seine Befürchtung.
„Korialstrasz, benutze deine Nase und sag mir, was du riechst.“
Der Drache gehorchte. Sein Gesicht spiegelte Fassungslosigkeit wider. „Ich rieche… ich rieche unser Volk…“
„Einen aus unserem Volk?“
„Nein… viele… so viele, dass ihre Gerüche sich vermengen…“
„Was bedeutet das?“, fragte Malfurion.
Der Drachenmagier zischte. „Das bedeutet, dass die Dämonen, gegen die wir kämpften, mehr Schaden angerichtet haben, als ich angenommen hatte.“
„Aber… wir sind fast unverletzt entkommen…“
Krasus hätte ein paar Wunden liebend gern gegen das eingetauscht, was ihnen nun bevorstand. Die wenigen Minuten, die sie gebraucht hatten, um sich aus der Falle zu befreien, hatten gereicht. Die anderen Drachen waren an ihnen vorbeigezogen.
Er wollte einiges darüber erzählen, doch der Zauber hielt ihn davon ab. Krasus konnte nur eines zu Malfurion sagen, doch das reichte bereits völlig aus. „Die Drachen sind vor uns, Druide… und ich bin sicher, dass er sie anführt.“
Malfurion verstand sofort, was er meinte. Die Drachen flogen der Schlacht entgegen. Sie glaubten, dass sie die Dämonen mit ihrer Wunderwaffe vernichten würden.
Sie ahnten nicht, dass Neltharion, der sie in die Schlacht führte, sie bereits verraten hatte…
Meilen entfernt eilten die Drachen rasch ihrem Ziel entgegen. Neltharion hatte sie in Bodennähe fliegen lassen und mit der Drachenseele den Nebel vertrieben. Das hatte sogar Alexstrasza und die anderen Aspekte beeindruckt. Niemand bezweifelte mehr die Fähigkeiten seiner Schöpfung.
Als er sich seinem bevorstehenden Triumph näherte, begannen die Stimmen wieder in seinem Kopf zu flüstern. Bald ist es so weit, sagten sie. Bald, bald!
In Kürze würden sich alle vor seiner Macht verneigen, und die Welt würde sich ihm unterwerfen.
„Was sollen wir tun?“, fragte Alexstrasza.
Du sollst mir deine Kehle darbieten, dachte der Erdwächter, sagte jedoch: „Ich habe die Anordnung erklärt. Alle sollen sich an der entsprechenden Stelle in der Luft befinden. Den Rest wird die Drachenseele erledigen.“
„Das ist alles?“
Du solltest vor mir niederknien… „Ja, das ist alles.“
Neltharion war froh, dass sie keine weiteren Fragen stellte. Sein Verstand tobte, und ihre Neugier hatte ihn fast dazu getrieben, sich zu verraten.
Die Drachenseele – seine Drachenseele – vertrieb den Nebel vor ihnen. Neltharion blickte über das Land und sah Bewegungen am Boden, so als würden dort Tausende Ameisen entlangkriechen.
Die Schlacht lag vor ihnen. Er konnte seinen Triumph kaum noch verbergen.
Geduld… murmelten die Stimmen. Geduld…
Der schwarze Drache konnte sich ein wenig Geduld leisten. Er konnte warten. Seine Belohnung würde so groß sein, dass ein paar Minuten keine Rolle spielten.
Nur noch ein paar Minuten.
Brox sah sie als erster. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, zog seine Axt aus einer Teufelsbestie und blickte zufällig nach oben. Da sah er die ersten Drachen über dem Schlachtfeld auftauchen. Überrascht blieb er stehen und hätte wegen dieser Unvorsichtigkeit beinahe seinen Kopf verloren. Brox schlug den angreifenden Teufelswächter in drei Teile, dann trat er zurück und sah sich um. Rhonin war nirgends zu sehen.
Der Orc schnaufte. Der Zauberer würde schon bald erfahren, dass die Drachen eingetroffen waren – so wie jeder andere auf dem Schlachtfeld.
Der Kampf, dachte Brox, war gerade um einiges interessanter geworden.
Rhonin war nicht zu Lord Ravencrest vorgedrungen. Der Adlige war in Sichtweite, doch der plötzliche Dämonenangriff verlangte Rhonins volle Konzentration. Er musste die Frontreihen schützen. Mit einigen kurzen Zaubern stabilisierte er die Linien erst einmal, aber allein konnte er den Kampf nicht herumreißen. Die Mondgarde hatte sich zwischen den Soldaten verteilt, abgesehen von den Magiern, die Illidan an sich gebunden hatte. Schließlich brauchte er Kraft für seine spektakulären Zauber.
Malfurions Bruder wurde immer leichtsinniger und rücksichtsloser, und das lag nicht nur an den Umständen. Er warf Zauber, als wären es Kiesel, und es schien ihm egal zu sein, dass er manchmal nur knapp die eigenen Leute verfehlte.
Ein Teil der Front drohte einzubrechen. Drei Höllenbestien, die von Verdammniswachen unterstützt wurden, waren zwischen den Soldaten eingeschlagen und hatten deren Linien aufgerissen. Teufelswächter schoben sich in die Lücke, schlugen und stachen nach allem, das noch Leben in sich trug.
Der rothaarige Zauberer gestikulierte mit einer Hand, aber bevor er den Zauber aussprechen konnte, erschütterte eine Explosion das betreffende Gebiet. Die Höllenbestien zerplatzten. Die Teufelswächter brachen mit zerfetzter Rüstung und zerfetzten Körpern zusammen.
Wäre dies das einzige Ergebnis der Explosion gewesen, hätte Rhonin wahrscheinlich gejubelt. Allerdings bemerkte er, dass zwischen den Dämonen zahlreiche tote Nachtelfen lagen, die das gleiche Schicksal ereilt hatte. Überlebende bettelten um Hilfe. Überall spritzte Blut.
Rhonin fluchte, aber nicht, weil es seine Schuld war. Seinen Zauber hatte er nicht einmal ausgesprochen.
Wütend sah er zu Illidan. Der Zauberer hatte es wirklich getan. Er hatte seine eigenen Leute getötet. Entweder bemerkte er es nicht, oder – es interessierte ihn nicht.
Rhonin vergaß die Brennende Legion. Er schob sich zwischen den Soldaten hindurch auf Malfurions Zwillingsbruder zu. Illidan musste Rechenschaft für diesen Zauber ablegen. So etwas durfte nicht noch einmal passieren.
Das Objekt seines Zorns drehte sich um und grinste ihn triumphierend an. Rhonins Wut stieg.
Doch dann blickte Illidan an ihm vorbei. Seine Augen weiteten sich. Sein Grinsen wurde breiter.
Rhonin wollte sich zwar nicht ablenken lassen, sah dann aber doch hin.
Auch seine Augen weiteten sich. Er fluchte.
Drachen tauchten in dem plötzlich klaren Himmel auf. Hunderte von Drachen.
„Nein…“ Rhonin starrte die fliegenden Gestalten an. An ihrer Spitze entdeckte er einen schwarzen, gewaltigen Drachen. Es war klar, wer das sein musste. Und damit war auch klar, an welchem Punkt der Geschichte sie sich befanden. In ein schlimmeres Ereignis hätten die Nachtelfen nicht geraten können.
„Nein“, flüsterte Rhonin. „Nicht jetzt… nicht jetzt…“
20
Es gab nur wenige Dinge, die Archimonde erschüttern konnten. Normalerweise betrachtete er jede Situation mit dem ihm eigenen nüchternen und analytischen Verstand – egal, ob sie Nachtelfen, Magie oder Drachen betraf.
Doch jetzt war er erschüttert, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass die Drachen in so großer Zahl erscheinen würden. Alles, was er über sie gelesen hatte, wies darauf hin, dass sie sich aus weltlichen Angelegenheiten heraushielten und sich von allem abkapselten. Er hatte wohl damit gerechnet, dass einige sich einmischen würden. Deshalb hatte er Verdammniswachen an strategisch günstigen Stellen im Nebel positioniert. Aber diese waren überfordert, denn es waren nicht nur ein paar Drachen erschienen, sondern… alle.