Die anderen Aspekte starrten den Erdwächter an, als hätten sie ihn noch nie zuvor gesehen. Malygos begann, auf den schwarzen Drachen einzureden. „Mein guter Freund Neltharion. Sie wollte dich doch nicht beleidigen. Sie hat nur darauf hingewiesen, dass wir effizienter vorgehen, wenn – “
„Sei still!“
Die Scheibe leuchtete auf.
Die Clans versteiften sich. Ihre Flügel erstarrten. Trotzdem stürzten sie nicht in die Tiefe, denn die monströse Macht der Drachenseele sorgte dafür, dass sie getragen wurden. Nur ihre Augen bewegten sich noch. In ihnen spiegelte sich das Entsetzen über den Verrat des Schwarzen wider. Nur dessen eigener Glan teilte diese Reaktion nicht.
„Ihr werdet mich nicht verraten! Ich werde mein Recht durchsetzen! Mein Schicksal wird sich erfüllen. Dieses Land… alle Länder werden sich vor mir verbeugen. Ich werde die Welt so erschaffen, wie sie sein sollte.“
Sein Blick fiel auf die Schlacht, allerdings nicht auf die Brennende Legion. Der schwarze Leviathan richtete die Scheibe auf die vorrückenden Nachtelfen und zischte: „Alle sollen wissen, dass ihr Leben von mir abhängt!“
Die Macht der Drachenseele traf die Streitmacht.
Die Nachtelfen waren so siegessicher, dass sie im ersten Moment nicht begriffen, was geschah. Sie hätten ohnehin nichts daran ändern können. Das gleißend helle Licht traf die ersten Reihen. Die Soldaten schrien kurz auf und verschwanden. Die Reiter auf ihren Nachtsäblern starben ebenso wie die Fußsoldaten, von denen Dutzende in einem Sekundenbruchteil fielen.
Der Vormarsch geriet ins Stocken. Die Nachtelfen flohen. Zurück blieb nur die verbrannte Landschaft und die Überreste einiger Leichen.
Chaos herrschte. Weder die Nachtelfen, noch die Dämonen verstanden, was vor sich ging. Alle Augen richteten sich auf den gewaltigen schwarzen Schatten, der den Tod brachte.
Die Stimme des Erdwächters übertönte jedes andere Geräusch. „Hört zu, wertloses Getier! Richtet eure Gebete an mich, denn ich bin Neltharion, euer Gott!“
Die Stimmen in seinem Kopf schrien wild durcheinander, drängten ihn zu weiteren Gewalttaten. Doch ausnahmsweise ignorierte er sie. Er wollte seinen Triumph auskosten. Die winzigen Gestalten sollten vor ihm auf die Knie fallen und seine Überlegenheit anerkennen. Schließlich konnte er sie töten, wann immer es ihm beliebte.
Und das würde er auch tun, wenn sie ihn zu langweilen begannen.
„Kniet vor mir nieder! Jetzt!“
Die meisten folgten seinem Befehl. Nur einige blieben verwirrt und unsicher stehen.
Die Drachenseele traf die Entscheidung für sie. Ihr tödliches Licht strich einmal kurz über die Nachtelfen, dann über die Dämonen. Das war eine deutliche Lektion. Wer bis dahin noch gestanden hatte, sank jetzt rasch auf die Knie.
Der wahnsinnige Drache knurrte. „Ich habe mit angesehen, wie ihr bemitleidenswerten Kreaturen meine Welt ruiniert habt! Es muss wieder Ordnung herrschen. Meine Welt soll wieder vollkommen sein. Wer nicht bereit ist, mir zu dienen, wird sterben!“
Ein Zischen ließ Neltharion herumfahren. Alexstrasza konnte sich zwar nicht bewegen, aber es war ihr gelungen, ihrer Wut und ihrer Abscheu Ausdruck zu verleihen.
„Und du…“, stieß der Schwarze hervor. Seine neuen Untertanen waren vergessen. „Du und meine anderen verräterischen und intriganten Freunde… euer Leben wird von mir bestimmt werden. Etwas Besseres habt ihr nicht verdient.“
Alexstrasza rang um Worte. Neltharion gab sich großzügig und erlaubte ihr diese Fähigkeit.
„Was hast du getan, Neltharion? Welchen Schrecken hast du erschaffen? Du nennst uns verräterisch, aber ich sehe hier nur einen Verräter!“
„Ich habe dir erlaubt zu sprechen, aber du solltest dieses Geschenk nutzen, um dich für deine Verbrechen zu entschuldigen und meine Gnade zu erflehen. Stattdessen wagst du es, mich zu verurteilen?“
Sie schnaufte abfällig. „Niemand hier hat je ein so schreckliches Verbrechen begangen.“ Alexstrasza zögerte, dann sprach sie in einem sanfteren Tonfall weiter. „Neltharion, das passt doch nicht zu dir… Du wolltest, dass die Welt friedlich und harmonisch ist…“
„Und das wird sie sein! Wenn alle meinen Befehlen gehorchen, wird es kein Chaos und keine Kriege mehr geben.“
„Und keinen Tod? Wie viele sollen sterben, um deinen Frieden zu erschaffen, alter Freund?“
„Ich – “ Die Stimmen drängten ihn, sie zu töten. Der schwarze Drache schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen. „Alexstrasza… ich…“
„Kämpfe gegen den Wahnsinn an, der dich beherrscht, Neltharion! Du bist stark. Denke daran, wer du einmal warst… und vernichte dieses Ding, bevor es für uns alle zu spät ist!“
Sie hatte das Falsche gesagt. Der Blick des Erdwächters verhärtete sich. Er legte eine schützende Tatze auf die Scheibe. „Nein! Dein Verrat wird immer schlimmer. Du willst meine Schöpfung für dich selbst beanspruchen! Ich habe es gewusst. Ich habe gewusst, dass man euch allen nicht trauen kann!“
„Neltharion – “
„Schweig!“
Alexstraszas Kiefer erstarrten. Sie versuchte zu sprechen, aber die Macht der Drachenseele überwältigte sie.
Der dunkle Gigant wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Wesen am Boden zu, die ihn reglos und voller Entsetzen anstarrten.
„Ich habe eine Entscheidung getroffen!“, rief er. „Ich habe entschieden, dass ich kein Getier wie euch in meiner neuen Welt sehen möchte!“
Er hob die Drachenseele. Die Scheibe begann zu leuchten.
Und ein roter Drache stieß heftig mit Neltharion zusammen.
Ihnen bot sich ein schrecklicher Anblick. Am Boden herrschten Tod und Verwüstung, in der Luft wurden die Drachen in der Falle eines Verräters gefangen gehalten.
Krasus fluchte. „Wir kommen zu spät! Neltharion hat sein Volk bereits verraten.“
Im gleichen Moment erkannte er überrascht, dass der Zauber des Erdwächters ihn nicht mehr behinderte. Wieso auch? Neltharion hatte seinen Verrat selbst offenbart. Der Zauber erfüllte keinen Zweck mehr.
„Das ist schrecklich!“, brüllte Korialstrasz. „Alexstrasza ist seine Gefangene! Wie kann er das wagen? Dafür töte ich ihn.“
„Beruhige dich!“, unterbrach ihn Krasus. „Neltharion und die Dämonenseele sind zusammen zu mächtig.“
„Dämonenseele? Das ist wahrlich ein besserer Name dafür! Diese Scheibe ist eine Höllenschöpfung, die besser zu den Kreaturen der Brennenden Legion als zu einem Drachen passen würde.“
Krasus hatte den Namen, den man der Scheibe in späteren Zeiten geben würde, nicht nennen wollen, aber dazu war es jetzt zu spät. Vielleicht würde der Name ja sogar aus dieser Unterhaltung weitergetragen werden. Der Magier konnte längst nicht mehr sagen, welche Ereignisse zur ursprünglichen Geschichte gehörten und welche durch seine Einmischung entstanden waren. In der gegenwärtigen Situation war das vielleicht auch egal. Nicht egal war jedoch die Bedrohung, der Kalimdor jetzt gegenüberstand und gegen die selbst Dämonen harmlos wirkten.
„Was sollen wir tun?“, fragte Malfurion.
„Die Dra… die Dämonenseele ist nicht unverletzlich. Neltharion ist der Schlüssel. Er hat sie erschaffen, und er ist ihre Schwäche.“
„Willst du sie zerstören? Wir könnten damit mein Volk retten.“
Krasus sah ihn grimmig an. „Druide, jeder andere Weg, der zum Überleben führt, ist besser als diese Ausgeburt des Schreckens. Spürst du denn nicht das Böse, das darin liegt?“
Der Nachtelf spürte es. Außer Neltharion nahm wahrscheinlich jeder das Grauen wahr, das die Dämonenseele ausstrahlte, wenn sie benutzt wurde.
Korialstrasz schüttelte den Kopf. „Ich halte das nicht aus!“
Der rote Drache sank wortlos herab und landete zwischen einigen Hügeln hinter den Linien der Nachtelfen. Hier war er auch vor dem Blick des wahnsinnigen Schwarzen geschützt.
Seine beiden Reiter stiegen ab. Krasus sah ihn an. „Was hast du vor?“
„Das weißt du doch genau.“
Das stimmte. Er konnte sich undeutlich an seine Entscheidung erinnern. Doch auch sie war längst nicht mehr in Stein gemeißelt. Korialstrasz war schon einmal beinahe gestorben. Ein zweites Mal hatte er vielleicht nicht so viel Glück.