„Ein Insekt!“, wiederholte er beinahe fröhlich. „Ihr alle seid für mich nur Insekten.“
Der schwarze Drache bebte, als stünde er kurz vor einer Explosion. Mit seiner freien Tatze zeigte er auf den Boden weit unter sich.
Die Erde erzitterte. Dämonen und Nachtelfen flohen vor den Vulkanen, die plötzlich ausbrachen. Lava schoss hoch in den Himmel und regnete auf jene herab, die nicht schnell genug gerannt waren. Neltharion hatte einst geschworen, die Kräfte der Erde weise zu nutzen. Jetzt setzte er sie ein, um sinnlos zu morden. Vor Korialstrasz’ Augen pervertierte der Erdwächter die Aufgabe, für die er gelebt hatte. Er verwandelte sich in das Gegenteil eines Aspekts.
Seine Gräueltaten schienen ihn auch äußerlich zu verändern. Ein Spalt erschien in seiner Brust. Schuppen zerrissen, als seien sie aus Papier. Es floss kein Blut aus den Wunden, nur reines Feuer. Ein zweiter Riss öffnete sich in der Brust, ein dritter auf dem Rücken.
Die Wunden breiteten sich wie eine schreckliche Seuche über seinen ganzen Körper aus. Korialstrasz glaubte, die Schmerzen zu spüren, die der Schwarze erleiden musste, aber Neltharion selbst schien nichts davon zu bemerken. Er schien die Veränderungen sogar zu genießen. Seine Augen brannten mit der Macht der Scheibe. Er lachte, während er das Land unter sich verheerte.
Korialstrasz sammelte sich und konzentrierte sich auf seinen wahrscheinlich letzten Angriff. Er flog auf Neltharion zu und bereitete sich auf seinen Tod vor. In Gedanken entschuldigte er sich bei Krasus, der im gleichen Moment sterben würde.
Neltharion war zwar mit seiner mörderischen Aufgabe beschäftigt, bemerkte aber dennoch die Rückkehr seines Gegners. Er lächelte herablassend und richtete die Dämonenseele gegen Korialstrasz.
Die Kraft der Scheibe schleuderte den roten Drachen dem Erdboden entgegen. Er versuchte, seinen Sturz zu bremsen, aber die Dämonenseele ließ es nicht zu.
Mit ohrenbetäubendem Krachen schlug er auf. Doch Neltharion ließ ihn immer noch nicht los. Er schien Korialstrasz zermalmen zu wollen.
Plötzlich erschien eine Aura aus knisternder blauer Energie rund um den Erdwächter. Er zischte und presste die Dämonenseele gegen seine Brust. Wütend drehte er sich um, suchte die Ursache seiner unerwarteten Gefangenschaft.
Korialstrasz blinzelte seine Tränen weg. Über ihm bewegten sich Gestalten auf Neltharion zu.
Die anderen Drachen waren frei. Durch den Kampf gegen Alexstraszas Gefährten und die Attacken, die er gegen die Nachtelfen und Dämonen geführt hatte, musste Neltharion den Überblick verloren haben. Der Zauber, der seine Sklaven an ihn band, war geschwächt worden. Dieser Fehler war Kalimdors letzte Hoffnung.
Eine Gruppe löste sich von den anderen. Wütende blaue Drachen umflatterten den gefangenen Aspekt. An ihrer Spitze flog einer, der den Erdwächter bis zu dem Moment von dessen Verrat mehr als jeder andere unterstützt hatte.
„Neltharion!“, brüllte Malygos. „Mein Freund Neltharion. Was ist nur aus dir geworden? Das Ding, das du erschaffen hast, wird dich vernichten. Gib es mir, damit ich seinen Fluch brechen kann.“
„Nein!“, schrie Neltharion zurück. „Du willst die Scheibe haben! Ihr alle wollt sie haben! Ihr wisst, welche Macht ihr durch sie erlangen könnt. Sie könnte euch alle in Götter verwandeln!“
„Neltharion – “
Weiter kam Malygos nicht. Der schwarze Drache zischte. Flammen schlugen aus seinem Körper. Die goldene Aura, die ihn und die Scheibe umgab, sprengte das Gefängnis der blauen Drachen auf.
„Du lässt uns keine Wahl, alter Freund“, seufzte Malygos und flog dem anderen Aspekt entgegen. Die sie umgebenden Blauen bereiteten sich auf ihren Angriff vor. Kein anderer Clan war mit den Besonderheiten der Magie so vertraut wie sie. Hier endlich, glaubte ein geschwächter Korialstrasz zu erkennen, würde Neltharions Verrat sein Ende finden.
Wie ein Wolfsrudel umkreisten die blauen Drachen ihren Gegner. Eine tiefblaue Aura umgab Malygos.
„Diese Obszönität hätte niemals entstehen dürfen“, sagte der Zauberer zu Neltharion. „Leider war ich maßgeblich an der Schöpfung beteiligt – daher ist es nur fair, wenn ich sie auch wieder tilge.“
Ein Pfeil aus weißem Licht schoss der Scheibe entgegen. Malygos hatte nicht gelogen: Er wollte die Dämonenseele im wahrsten Sinne des Wortes auslöschen. Alles, was der Pfeil berührte, hörte auf zu existieren. Es gab keinen Nebel mehr und keinen Himmel, nur ein weißes Nichts. Der Himmel kehrte nach nur wenigen Sekunden zurück, doch die Scheibe würde auf ewig verschwinden.
Zumindest hätte sie das tun sollen, aber weder Korialstrasz, noch einer der anderen Drachen würde je erfahren, ob Malygos’ Zauber dies auch tatsächlich vollbracht hätte. Der Pfeil war noch Sekundenbruchteile von der Dämonenseele entfernt, als Neltharion ausspuckte. Sein Speichel wurde zu einer schwarz leuchtenden Kugel, die auf den Pfeil traf. Funken sprühten… und dann verschwand beides.
Malygos schrie wütend und forderte seinen Clan mit einer Geste zum Kampf auf.
Doch Neltharion war schneller. Der weiße Pfeil hatte sich noch nicht vollständig aufgelöst, da richtete der Aspekt bereits die Dämonenseele auf seine Gegner. Dieses Mal schoss kein goldenes Licht aus ihr hervor, sondern ein diffuses Grau.
Malygos erschuf einen Schild aus Rauch, der ihm aber wenig nützte. Das graue Licht schleuderte ihn so hart zurück, dass er schreiend über die Hügel und bis hinter den Horizont geworfen wurde.
Für seine Gefährtinnen und Anhänger hatte sich Neltharion ein schlimmeres Schicksal ersonnen. Gleichzeitig begannen sie auszutrocknen wie Wasserschläuche in der Sonne. Ihre Schreie waren entsetzlich. Sie wehrten sich gegen den Angriff, aber keiner von ihnen konnte dem grauen Licht entrinnen.
Die anderen Drachen versuchten ihnen zu helfen, doch sie kamen zu spät. Die sterbenden blauen Drachen waren nur noch vertrocknete Hüllen. Die Dämonenseele hatte ihnen die Lebenskraft und die Magie entzogen. Sie zerfielen zu Staub und wurden vom Wind davongetragen.
„Nein…!“, stieß Korialstrasz hervor. Er versuchte aufzustehen. Die Welt begann sich zu drehen, und er brach wieder zusammen. Unter ihm zerpulverte der Fels. „Nein…“
„Narren!“, knurrte der Erdwächter ohne einen Hauch von Reue. „Ich habe euch oft genug gewarnt. Ich bin euch überlegen! Alles gehört mir! Es gibt nur Leben, weil ich es erlaube!“
Er warf einen kurzen Blick in die Richtung seiner Gegner, dann schickte er ihnen einen Wirbelsturm, der sie so haltlos durcheinander warf, als seien sie Spielzeug. Selbst Alexstrasza und Ysera konnten sich nicht dagegen wehren und wurden mit den anderen davon gerissen. Hilflos und taumelnd legten sie die Meilen zurück. Kein einziger Drache entkam Neltharions Zauber.
Der monströse Leviathan, dessen Körper aufgedunsen und voller brennender Wunden war, wandte sich wieder den Nachtelfen und deren Gegnern zu. „Und ihr! Nichts habt ihr begriffen! Aber das werdet ihr! Das werdet ihr!“
Er lachte. Mit seiner freien Tatze griff er nach einem Riss in seiner Haut. Erst jetzt schien er die schrecklichen Veränderungen zu bemerken. Ehrfürchtig staunend betrachtete er seinen Körper. Dann sah er sein Publikum an. „Wir werden bald sehen, wer es wert ist, in meiner Welt zu leben. Ich überlasse euch eurem kleinen Krieg… ihr werdet darum kämpfen, wer überleben und mir huldigen darf.“
Nach einem letzten wahnsinnigen Gelächter wandte sich der schwarze Riese ab und flog davon.
Korialstrasz war froh, dass der Erdwächter seinen irrsinnigen Vernichtungsfeldzug nicht fortgesetzt hatte. Zugleich wusste er aber auch, dass das Schicksal ihnen nur eine Atempause gönnte. Neltharion schien die Veränderungen seines Körpers zwar einerseits zu erstaunen, andererseits hatte er aber wohl auch begriffen, dass er etwas gegen die Kräfte unternehmen musste, die ihn auseinander rissen. Der geschwächte Korialstrasz ahnte, dass der Schwarze schon bald eine Lösung finden und die Erschaffung seiner Welt fortsetzen würde.
Er versuchte erneut aufzustehen, aber sein Körper gehorchte ihm noch immer nicht. Hoffnungsvoll blickte er in den nebligen Himmel, fand aber keinen Hinweis auf Alexstrasza und die anderen Drachen. Besorgt fragte er sich, ob sie wohl ein ähnliches Schicksal wie Malygos’ Clan erlitten haben mochten. In Gedanken sah er seine Königin leblos in einer kargen Berglandschaft liegen. Eine Träne löste sich aus seinem Auge. Doch selbst diese furchtbare Vorstellung mobilisierte nicht die verschütteten Kräfte seines Körpers.