«Mein Herr, «sprach Athos, indem er ihn losließ,»Ihr seid nicht artig. Man sieht, daß Ihr von ferne herkommt.«
D'Artagnan hatte schon drei bis vier Stufen überschritten, aber die Bemerkung von Athos hielt ihn plötzlich zurück.
«Bei Gott! mein Herr, «sprach er,»aus so weiter Ferne ich auch kommen mag, so werdet Ihr mir doch keinen Unterricht in den feinen Manieren ertheilen, das sage ich Euch.«—»Vielleicht, «erwiederte Athos. — »Ah! wenn ich nicht so sehr Eile hätte, «rief d'Artagnan,»und wenn ich nicht Einem nachlaufen würde…«—»Ei, mein eiliger Herr, mich werdet Ihr finden, ohne mir nachzulaufen, versteht Ihr?«—»Und wo dies, wenn es gefällig wäre? — »Bei den Karmeliter-Barfüßern.«—»Zu welcher Stunde?«—»Gegen Mittag.«—»Gegen Mittag, gut; ich werde dort sein.«—»Laßt mich nicht lange warten, denn ein Viertel nach zwölf laufe ich Euch nach, das sage ich Euch, und schneide Euch die Ohren im Laufen ab.«—»Gut!«rief d'Artagnan;»ich werde zehn Minuten vor zwölf mich einfinden.«
Und er fing wieder an zu rennen, als ob ihn der Teufel holte, in der Hoffnung, seinen Unbekannten zu finden, den sein ruhiger Gang noch nicht weit geführt haben konnte.
Aber am Straßenthor plauderte Porthos mit einem Wache stehenden Soldaten. Zwischen den zwei Sprechenden war gerade Raum für einen Mann. D'Artagnan glaubte, dieser Raum würde für ihn genügen, und stürzte vor, um wie ein Pfeil zwischen beiden durchzuschießen. Aber d'Artagnan hatte ohne den Wind gerechnet. Als er eben im Begriffe war, durchzudringen, fing sich der Wind in den langen Mantel von Porthos, und d'Artagnan prallte gerade in den Mantel. Porthos hatte ohne Zweifel Gründe, diesen wesentlichen Theil seiner Kleidung nicht preiszugeben, denn statt das Blatt, welches er festhielt fahren zu lassen, zog er es an sich, so daß d'Artagnan durch eine umdrehende Bewegung, die sich leicht durch den Widerstand des hartnäckigen Porthos erklären läßt, sich in den Sammet verwickelte.
Als d'Artagnan den Musketier fluchen hörte, wollte er sich unter dem Mantel, der ihn verblendete, hervorarbeiten und suchte seinen Weg in den Falten. Er fürchtete besonders die Frische des, uns bereits bekannten, glänzenden Wehrgehänges beeinträchtigt zu haben; als er aber schüchtern die Augen öffnete, fand es sich, daß seine Nase zwischen den beiden Schultern von Porthos, das heißt gerade auf dem Wehrgehänge steckte. Ach! wie die meisten Dinge dieser Welt, die nur den Schein für sich haben, war das Wehrgehänge vorne von Gold und hinten von Büffelleder. Da Porthos, ein Hochmuthsnarr, wie er war, kein ganz goldenes Wehrgehänge haben konnte, so hatte er wenigstens die Hälfte davon: man begreift jetzt die Nothwendigkeit des Schnupfens und das dringliche Bedürfniß eines Mantels.
«Donner und Teufel!«rief Porthos, während er sich mit aller Gewalt anstrengte, von d'Artagnan loszukommen, der ihm am Rücken krappelte, seid Ihr denn wahnsinnig, daß Ihr Euch so auf die Leute werft!«
«Entschuldigt mich, «sagte d'Artagnan, als er wieder unter den Schultern des Riesen erschien,»aber ich hatte Eile, ich laufe Einem nach, und…«
«Vergeßt Ihr vielleicht Eure Augen, wenn Ihr Jemand nachlauft?«fragte Porthos.
«Nein, «antwortete d'Artagnan gereizt,»nein, und meinen Augen hab' ich es sogar zu danken, daß ich das sehe, was Andere nicht sehen.«
Porthos verstand oder verstand nicht, jedenfalls erfaßte ihn der Zorn und er rief:
«Mein Herr, man wird Euch zu striegeln wissen, wenn Ihr Euch an den Musketieren reibt.«
«Striegeln, mein Herr!«sagte d'Artagnan,»das Wort ist hart.«
«Es ist das Wort eines Mannes, der seinen Feinden ins Gesicht zu sehen gewohnt ist.«
«Ah! bei Gott, ich weiß wohl, daß Ihr den Eurigen den Rücken nicht zukehrt.«
Und über seinen Witz entzückt, entfernte sich der junge Mann laut lachend.
Porthos schäumte vor Wuth und machte eine Bewegung, um über d'Artagnan herzufallen.
«Später, später, «rief dieser,»wenn Ihr Euren Mantel nicht mehr anhabt.«
«Um ein Uhr also, hinter dem Luxemburg.«
«Sehr wohl, um ein Uhr, «erwiederte d'Artagnan, sich um die Straßenecke wendend.
Aber weder in der Straße, die er durchlaufen hatte, noch in derjenigen, in welcher er jetzt seine Blicke umherlaufen ließ, sah er irgend Jemand. So sachte der Unbekannte gegangen war, so hatte er doch einen Vorsprung gewonnen; vielleicht war er auch in ein Haus eingetreten. D'Artagnan erkundigte sich bei Allen, denen er begegnete, nach ihm, ging bis zur Fähre hinab und wieder durch die Rue de Seine und la Croix-Rouge hinauf, aber nichts, durchaus nichts. Dieses Laufen war jedoch in so fern für ihn vorteilhaft, als je mehr der Schweiß seine Stirne überströmte, desto mehr sein Gemüth sich abkühlte. Er fing nun an, über die Ereignisse die er so eben erlebt hatte, nachzudenken, sie waren zahlreich und unglücklich; es war kaum elf Uhr und bereits hatte ihm der Morgen die Ungunst des Herrn von Treville zugezogen, der die Art und Weise, wie d'Artagnan ihn verlassen hatte, etwas wenig cavaliermäßig finden mußte. Dann hatte er zwei Duelle mit Männern angebunden, von denen jeder im Stande war, drei d'Artagnan zu tödten, kurz mit zwei Musketieren, mit zwei von diesen Wesen, die er so hoch schätzte, daß er sie in seinem Geist und in seinem Herzen über alle andere Menschen stellte.
Diese Conjunctur war sehr traurig. In der Ueberzeugung, von Athos getödtet zu werden, bekümmerte sich der junge Mann begreiflicher Weise nicht viel um Porthos. Da jedoch die Hoffnung das Letzte ist, was in dem Herzen des Menschen erlischt, so fing er wirklich an zu hoffen, er könnte diese zwei Duelle, freilich mit furchtbaren Wunden, überleben, und im Fall des Ueberlebens machte er sich für die Zukunft folgende Vorstellungen:
«Was für ein hirnloser Tölpel bin ich! Dieser brave und unglückliche Athos ist an der Schulter verwundet und ich stürze mit dem Kopfe auf ihn zu, gerade wie ein Stier. Mich wundert nur, daß er mich nicht todt zu Boden streckte; er hatte das Recht dazu, und der Schmerz, den ich ihm verursacht habe, muß furchtbar gewesen sein. Was Porthos betrifft, — ah Porthos! das ist drolliger. «Und unwillkürlich fing der junge Mann an zu lachen, wobei er indessen umherschaute, ob durch dieses vereinzelte Gelächter Niemand ohne Grund verletzt wurde.»Die Sache mit Porthos ist drolliger, darum bin ich aber nicht weniger ein elender Dummkopf. Wirft man sich so auf die Leute, ohne» Habt Acht!«zu rufen, nein! und schaut man ihnen unter den Mantel, um zu sehen, was nicht da ist? Er hätte mir gewiß verziehen. Er hätte mir verziehen, wäre ich nicht so unklug gewesen, von dem Wehrgehänge zu sprechen, allerdings mit verblümten Worten! ja, schön, verblümt! Ah! verdammter Gascogner, der ich bin, ich würde in der Bratpfanne Witze machen. Auf! d'Artagnan, mein Freund, «fuhr er fort, indem er zu sich selbst mit all der Höflichkeit sprach, die er sich zu schulden glaubte,»entkommst Du, was nicht sehr wahrscheinlich ist, so hast Du in Zukunft eine vollkommene Höflichkeit zu beobachten. Man muß Dich fortan bewundern, als Musterbild nennen. Zuvorkommend und höflich sein, heißt nicht feig sein. Man schaue nur Aramis an, er ist die Sanftmuth, die Artigkeit selbst, und Niemand ist noch der Meinung gewesen, er sei ein Feigling! Nein, gewiß nicht, und von nun an will ich mich ganz nach seinem Vorbild formen! Ah! hier ist er gerade.«
Immer vorwärts marschirend und mit sich selbst sprechend war d'Artagnan bis auf einige Schritte zu dem Hotel d'Aiguillon gelangt, und vor diesem Hotel hatte er Aramis wahrgenommen, welcher munter mit drei Edelleuten von der Leibwache des Königs plauderte. Aramis bemerkte d'Artagnan ebenfalls; da er nicht vergaß, daß sich Herr von Treville diesen Morgen in seiner Gegenwart so stark ausgedrückt hatte, und da ein Zeuge der Vorwürfe, welche den Musketieren zu Theil wurden, ihm in keiner Beziehung angenehm war, so gab er sich den Anschein, als würde er ihn gar nicht gewahr. D'Artagnan aber, der im Gegentheil ganz mit seinen Versöhnungs- und Höflichkeitserklärungen beschäftigt war, näherte sich den vier jungen Leuten und machte eine tiefe Verbeugung, begleitet mit dem artigsten Lächeln. Aramis nickte leicht mit dem Kopf, lächelte aber nicht. Alle vier unterbrachen jedoch sogleich ihr Gespräch.