»Du hast ihre mütterlichen Gefühle geweckt.«
»Ich… ich glaube nicht, daß es mütterliche Gefühle waren… nicht direkt. Na ja, jedenfalls sagte sie, wenn ich bereit sei, mein Leben für Sie zu riskieren, dann könne sie das Leben ihres Vaters nicht länger schützen. Es sei im Grunde genommen selbstsüchtig von ihr gewesen, da sie außer ihm keine Angehörigen mehr habe… ich glaube ihr zwar nicht ganz, aber jedenfalls das hat sie gesagt.«
Mittlerweile hatten sie das Gebäude erreicht. Leoh packte Hector am Arm und ersparte ihm dadurch eine Kollision mit der halboffenen Tür.
»Sie ist damit einverstanden, daß wir Dulaq an die Duellmaschine anschließen?«
»Nicht ganz.«
»Wie?«
»Die Ärzte sind gegen eine Verlegung… insbesondere hierher. Geri hat sich dieser Meinung angeschlossen.«
Leoh stieß ein Schnauben aus. »Na schön. Ist mir eigentlich ganz recht. Die Keraker brauchen nicht zu sehen, daß wir Dulaq zu der Duellmaschine bringen. Statt dessen werden wir die Duellmaschine ins Krankenhaus schmuggeln!«
Sie machten sich sofort an die Arbeit. Leoh zog es vor, das reguläre Bedienungspersonal der Duellmaschine nicht einzuweihen, und so mußten er und Hector die ganze Nacht durcharbeiten und den größten Teil des folgenden Vormittags. Hector begriff kaum, was er eigentlich tat, aber unter Leohs Anleitung gelang es ihm, die Steuerelektronik zum Teil zu demontieren, einige geheimnisvolle schwarze Boxen anzuschließen, die der Professor aus den Ersatzteilen im Keller zusammengezaubert hatte, und dann alles wieder so zu montieren, daß man der Maschine äußerlich keine Veränderungen ansah.
Zwischen häufigen Inspektionstrips zur Überwachung von Hectors Arbeit hatte Leoh einen ziemlich sperrigen Kopfhelm zusammengebastelt, sowie eine handtellergroße Fernbedienung mit einem Notschalter. Die Vormittagssonne stand bereits hoch am Himmel, als Leoh Hector alles erklärte.
»Eine einfache technische Improvisation«, sagte er zu dem verwirrten Watchman. »Du hast einen Transceiver mit geringer Reichweite in der Maschine installiert, und dieser Kopfhelm ist ein tragbarer Transceiver für Dulaq. Jetzt kann er in seinem Krankenbett liegen und trotzdem ›in‹ der Maschine sitzen.«
Leoh zog lediglich drei der verläßlichsten Ärzte ins Vertrauen, und sie waren alles andere als begeistert von dem Plan.
»Es ist reine Zeitverschwendung«, erklärte der Chefpsychotechniker und schüttelte heftig seine silberweiße Mähne. »Sie können nicht erwarten, daß ein Patient, der nicht auf Medikamente angesprochen hat, in Ihrer Maschine eine positive Reaktion zeigt.«
Leoh widersprach, und Geri Dulaq bestand nachdrücklich darauf, daß der Versuch durchgeführt werden sollte. Schließlich erklärten sich die Mediziner einverstanden. Nur zwei Tage blieben ihnen noch bis zu Hectors Duell mit Odal, als sie endlich begannen, Dulaqs Geist zu erforschen. Geri blieb an der Seite ihres Vaters, während ihm die drei Ärzte den klobigen Transceiver aufsetzten und die Elektroden für die medizinischen Überwachungsgeräte anschlossen. Leoh und Hector begaben sich zur Duellmaschine und hielten über Tri-Di Kontakt mit dem Krankenhaus.
Leoh nahm eine letzte Überprüfung der Schalt- und Steuerelektronik vor, dann rief er noch einmal die gespannt wartende kleine Gruppe in Dulaqs Krankenzimmer an. Alles war bereit.
Begleitet von Hector, ging er zur Maschine. Ihre Schritte hallten laut in dem leeren Saal. Leoh blieb vor der einen Kabine stehen.
»Jetzt paß genau auf«, sagte er eindringlich. »Ich behalte die Fernbedienung in der Hand. Mit dem Notschalter kann ich jederzeit das Duell abbrechen. Trotzdem mußt du notfalls rasch reagieren, wenn etwas schiefgeht. Beobachte genau meine Körperfunktionen; ich habe dir die betreffenden Instrumente an der Kontrollkonsole gezeigt.«
»Geht in Ordnung, Sir.«
Leoh nickte und holte tief Atem. »Also, dann wollen wir mal.«
Er trat in die Kabine und setzte sich. Hector half ihm, die Neurokontakte anzubringen, und ließ ihn dann allein. Leoh lehnte sich zurück und wartete auf das Einsetzen jenes semihypnotischen Effekts. Dulaqs Wahl der Stadt und des Stat-Strahlers waren bekannt. Aber alles Weitere lag versiegelt in seinem unzugänglichen Geist. Konnte die Maschine dieses Siegel erbrechen?
Langsam, einlullend umhüllten die künstlichen und doch so realen Nebel der Maschine Dr. Leoh. Als sie sich verzogen, stand er auf der oberen Fußgängerebene in der Hauptgeschäftsstraße der Stadt. Einen langen Augenblick tat sich nichts.
Habe ich Kontakt aufgenommen? Mit wessen Augen sehe ich, mit meinen eigenen oder mit Dulaqs Augen?
Und dann spürte er es — ein amüsiertes, leicht verwirrtes Staunen über die Wirklichkeitstreue dieser Illusion. Dulaqs Gedanken!
Verdränge alles aus deinem Kopf, befahl sich Leoh. Halte Augen und Ohren offen. Sei völlig passiv.
Er wurde zum Zuschauer, der die Welt mit Dulaqs Augen und Ohren sah und hörte und den acquatainischen Premierminister durch seinen Alptraum begleitete. Er spürte die Bestürzung, die Frustration, die schlimmen Vorahnungen und den wachsenden Terror, als Odal andauernd in der Menge auftauchte — nur um sich in jemand anderen zu verwandeln und zu entkommen.
Die erste Runde des Duells endete, und ein Wirrwarr von Gedanken und Eindrücken stürmte plötzlich auf Leoh ein. Dann wurden die Gedanken langsam klarer und ruhiger.
Leoh sah eine endlose und völlig öde Ebene. Kein Baum, kein Grashalm, nichts als nackter und felsiger Boden, der sich in allen Himmelsrichtungen bis zum Horizont erstreckte; darüber ein bedrückend grellgelber Himmel. Zu seinen Füßen lag die Waffe, die Odal gewählt hatte. Eine primitive Keule.
Er teilte Dulaqs ungutes Gefühl, als er die Keule aufhob. Fern am Horizont sah er eine hochgewachsene, geschmeidige Gestalt, die eine gleichartige Keule in der Hand hielt und sich ihm näherte.
Leoh fühlte seine eigene, unwillkürliche Erregung. Er hatte die durch Schock verursachte Mauer um Dulaqs Geist durchbrochen. Dulaq durchlebte noch einmal den Teil des Duells, der den Schock ausgelöst hatte.
Zögernd ging er Odal entgegen. Aber als er näher kam, schien sich sein Gegner zu teilen. Jetzt waren es plötzlich zwei, vier, sechs Gestalten. Sechs Odals, sechs Spiegelbilder, alle mit massiven, bösartigen Keulen bewaffnet, und alle kamen sie auf ihn zu. Sechs schlanke blonde Killer mit eiskaltem Lächeln auf den entschlossenen Gesichtern.
Entsetzt, von Panik ergriffen, rannte er davon, versuchte den sechs Gegnern mit den sechs erhobenen und schlagbereiten Keulen zu entkommen.
Ihre jungen Beine holten ihn mühelos ein. Ein Schlag in den Rücken streckte ihn zu Boden. Einer kickte ihm die Waffe aus der Hand. Eine Sekunde lang standen sie feindselig und hämisch grinsend über ihn gebeugt. Dann fuhren sechs kräftige Arme nieder, wieder und wieder, unbarmherzig. Schmerzen und Blut, qualvolle Agonie zum schrecklichen Takt der schweren Knüppel, die auf verletzliches Fleisch und Knochen einschlugen, unaufhörlich, unablässig…
Plötzlich gab es nur noch Leere.
Leoh schlug die Augen auf und sah Hector, der sich über ihn beugte.
»Alles in Ordnung, Sir?«
»Ich… ich glaube schon.«
»Die Instrumente haben alle gleichzeitig im Gefahrenbereich ausgeschlagen. Sie haben… na ja, geschrien haben Sie.«
»Glaub’ ich dir aufs Wort«, murmelte Leoh.
Auf Hectors Arm gestützt, schleppte sich Leoh in sein Arbeitszimmer, wo er erschöpft auf die Couch sank. »Das war wirklich ein… ein Erlebnis«, ächzte er.
»Was ist geschehen? Was hat Odal gemacht? Wodurch wurde Dulaqs Schock verursacht? Wie ist…«