»Scheiße«, brüllte Hartmann und rappelte sich auf. Er sah, wie Kyle sich aus den Trümmern befreite, zwischen die ihn die Druckwelle gepreßt hatte, und dabei dicke Stahlplatten auseinanderbrach. Die Moroni hatten ihn fast erreicht. »Hierher«, rief er und zog sich zu der Zugangstür in der Felswand heran. »Passen Sie auf.« Er tastete nach einer Waffe, aber seine Hand fand nur das nutzlose Funkgerät. »Kyle, unten ...«
Der Megakrieger hielt etwas in der Hand. Hartmann erkannte die Umhängetaschen mit dem Sprengstoff und den Handgranaten. Er wußte, was kommen würde.
»Nein«, brüllte er, so laut er konnte. »Nein, verdammt ...«
Der Jared ignorierte ihn. Während die Moroni-Krieger auf ihn zukletterten und dabei immer wieder Laserschüsse abgaben, nahm er eine Granate aus einem Beutel und warf sie hinab.
Die Handgranate bewegte sich langsam und gleichmäßig. Ohne die hilfreiche Beschleunigung durch eine ausreichend hohe Schwerkraft entfernte sie sich nur langsam. Sie explodierte auf halbem Wege zwischen Kyle und den Moroni. Die ausgebrannten Überreste des Raffinerieturms sackten gut zehn Meter ab, und Kyle wurde einfach mitgerissen.
Trotzdem machte der Jared ungerührt eine weitere Granate scharf. Irgendein Moroni-Krieger unten in der Halle schaltete einen Scheinwerfer an, und der Lichtkegel erfaßte Kyles Gestalt, die in dem unbarmherzig harten Licht kaum menschlich wirkte. Laserschüsse trafen ihn und rissen ihn nach hinten zwischen die Stahlstreben.
Hartmann konnte erkennen, wie der Regenerationsprozeß sofort einsetzte, langsamer als sonst und auf unheimliche Weise anders. Zwei Schüsse trafen den Fels über seinem Kopf, überschütteten Hartmann mit glühenden Basaltsplittern und zwangen ihn, sich in den Schacht zurückzuziehen.
Hinter ihm explodierte die Handgranate und löste eine Kette von unterschiedlich heftigen Detonationen aus, die Maschinenteile, Moroni-Krieger und Felsen in Stücke rissen. Hartmann sah nicht mehr, wie Kyles Körper mitsamt der Plattform, auf der er festgesessen hatte, zur Seite kippte und in den aufsteigenden Flammenwolken verschwand. Ein Teil der Decke löste sich, stürzte mit majestätischer Langsamkeit herab und begrub den brennenden Ort der Schlacht unter sich.
5
Hin und wieder in ihrem Leben hatte es Zeiten gegeben, in denen Charity das Gefühl gehabt hatte, langsam aber unaufhaltsam auf einen Wutausbruch zuzusteuern, bei dem regelmäßig Teile des Mobiliars und gelegentlich auch ein paar Knochen zu Bruch gingen. Zu diesen Zeiten hatte sie immer das Gefühl gehabt, ein paar Schritte neben sich selbst zu stehen und sich dabei zuzusehen, wie sich kalte Wut langsam in ihrem ganzen Körper ausbreitete, vom Nacken den Rücken hinunterlief, sich im Bauch sammelte, um schließlich auch Beine und Arme zu erfassen, bis in die Zehen und Fingerspitzen hinein. Ein Tag begann dann typischerweise mit Kopfschmerzen nach dem Erwachen. Sie pflegte über Teppichkanten zu stolpern, leere Zahnputztuben vorzufinden, ihren Kaffee in die Untertasse zu verschütten. Irgendwann führte einer dieser Zwischenfälle zur ersten Unbeherrschtheit. Und dann schließlich, nach Stunden oder Tagen, erreichte sie einen Zustand, in dem ein Niesen sie in anhaltende berserkerhafte Wut versetzen konnte.
Seit drei Tagen saßen sie in der MacDonalds-Zentrale fest und warteten darauf, daß irgend etwas geschah. Sie beschäftigte sich mit der Beschreibung der Sicherungssysteme, und es trug nicht gerade zu ihrer Laune bei, daß es sich nicht um Klarschrift-Text, sondern um Sprachaufzeichnungen handelte, die nicht computerlesbar waren und daher auch nicht nach Stichwörtern durchsucht werden konnten. Zähneknirschend ließ sie sich Stunde um Stunde vorspielen und versuchte zu ertragen, daß die Aufzeichnungen von ihrem geschiedenen Mann angefertigt worden waren, dessen Stimme sie eigentlich nie wieder hatte hören wollen.
Immer wieder versuchte sie sich klarzumachen, daß es die erzwungene Untätigkeit war, die ihr so zu schaffen machte. Sie beneidete Skudder und Harris, die damit beschäftigt waren, das letzte verbliebene Schwerlast-Transportschiff zu überprüfen. Sie hatte Dubois im Auge behalten wollen und ihr deshalb die Aufgabe übertragen, die nicht weniger langweiligen Registrierungen und Kameraaufzeichnungen aus dem Tagebaugebiet durchzusehen. Nichts davon hatte sie wesentlich weiter gebracht. Weder Kias noch Gurk hatte sich über ihre Interpretation der Botschaft besonders überrascht gezeigt, und Charity argwöhnte, daß zumindest die Jared von Anfang an mehr von der Botschaft entschlüsselt hatten als sie zugeben wollten. Nun aber waren sie vermutlich genauso ratlos wie sie selbst. Sie hatten die Spur verloren. Von den Moroni-Gleitern, die das Wrack der HOME RUN angeflogen hatten, gab es keine Spur, und sie vermutete, daß der Trupp wieder zu der verborgenen Basis der Moroni zurückgekehrt war, wo immer sich diese Basis auch befinden mochte. Sie vermutete nach wie vor irgendwo eine unterirdische Anlage, und es hätte sie nicht verwundert, wenn der Transmitter in Grube II oder zumindest in einem der Zugänge gewesen wäre. Allerdings war er abgeschaltet geblieben, solange Dubois und der Würfel ihn überwacht hatten.
Sie drückte auf die Unterbrechungstaste und machte sich ein paar Notizen. Die meisten der improvisierten Fallen und Abwehranlagen von MacDonalds-Basis waren inzwischen abgeschaltet, aber die eigenständig handelnden Servomechanismen, angefangen bei den verdammten Reinigungsmaschinen bis hin zu den Magnetzügen, stellten noch immer eine Bedrohung dar. Sie seufzte leise und wünschte sich, die Moroni würden plötzlich eine große Neugier für MacDonalds entwickeln, dann hätte sie es den Ameisen überlassen können, herauszufinden, welche Teile der Basis sie betreten konnten und welche nicht.
»Darf ich Ihre Meditationen einen kurzen Moment unterbrechen«, erkundigte sich 370/98 höflich. Der Taktikcomputer verfügte über ein schier endloses Repertoire aus dummen Wortspielen und ironischen Formulierungen, und der Umgang mit ihm trug nicht dazu bei, Charitys Temperament in irgendeiner Weise zu besänftigen.
»Mach es kurz«, sagte sie lustlos.
»Ganz wie Sie wünschen, Lady.« Einer der Bildschirme an der Decke flackerte auf. »Ich empfange ein unregelmäßiges Signal auf einer Moroni-Notfrequenz.«
Charity war sofort hellwach. »Die Gleiter?« fragte sie alarmiert. Dubois warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Keine Information«, antwortete der Würfel. »Ich möchte hinzufügen, daß es sich um dasselbe Frequenzband handelt, auf dem die Botschaft vom Pol aufgefangen wurde.«
»Akustische Wiedergabe«, schnappte Charity, bevor die Erklärung ihr richtig bewußt geworden war. Ein in unregelmäßigen Abständen auftretendes Piepgeräusch setzte sich deutlich gegen das Hintergrundrauschen ab. Die Sonnenaktivität störte jeden Funkempfang.
»Es handelt sich um eine Nachricht ...«
»... in Space-Force-Chiffre«, unterbrach Charity die sich anbahnende langatmige Erklärung. »Unsere unbekannten Lotsen. Dechiffrieren, 370.«
»370/98«, sagte der Würfel betont. »Soviel Zeit muß sein.«
Charity atmete tief ein und nahm sich vor, das Gehäuse des Taktikcomputers mit einer Axt zu demolieren, sobald sie etwas Zeit übrig hatte.
»Übersetzung kommt«, sagte der Würfel, bevor sie Gelegenheit zu einem Kommentar hatte. »Monitor Zwei.«
Sie überflog den Text, »Warnung an Charity Laird«, las sie halblaut und überflog die Zeilen, noch während sie geschrieben wurden. »Befinden uns ... das ist die verdammte Botschaft.«
»Wort für Wort«, begann 370/98 und verstummte plötzlich.
»Radarkontakt«, rief Dubois und beugte sich hastig über ihr Pult. Alarmsirenen heulten irgendwo über ihnen an der dunklen Decke der menschenleeren Kommandozentrale. Auf dem großen Übersichtsbildschirm konnte man das Gelände von Grube II erkennen. Ein einzelner Moroni-Kampfgleiter zog nach oben, und ein zweiter entfernte sich vom Transmitter.