»Ist diese Frage ernst gemeint?« erkundigte sich Kias mit leiser Ironie. Seltsamerweise wirkte er auf unbestimmbare Weise zufrieden. Charity hatte das Gefühl, daß man sie gerade einem Test unterworfen hatte - und daß sie bestanden hatte -, auf welchem verschlungenen Umweg auch immer.
»Wir erwarten in den nächsten Stunden die heftigsten Rückstaus aus dem Netz«, teilte Kias mit. »Die Berechnungen decken sich weitgehend mit den Prognosen, die Gurk vor seiner ... Abreise von den Moroni-Computern anfertigen ließ.«
»Und das ist dann das Ende, nicht wahr?« sagte Charity müde.
»Es besteht die Möglichkeit, daß die Schockwellen das Loch drastisch vergrößern. Der Ring würde dabei zerstört werden«, antwortete Kias. Berücksichtigte man den inzwischen sprichwörtlichen Hang der Jared zur Untertreibung, dann stand der Weltuntergang unmittelbar bevor.
»Was können wir tun?«
»Warten«, antwortete der Jared lapidar. Er unterbrach die Verbindung.
Charity atmete langsam aus und kämpfte mühsam die Mutlosigkeit nieder, die sie befallen hatte. Sie erinnerte sich an das Gewehr in ihren Händen und richtete den Blick auf Harris und Dubois, die stumm vor der Mündung standen und sich nicht gerührt hatten.
»So wie ich das sehe, hat euer Dienstherr euch gerade gekündigt«, versetzte sie grimmig.
»Was soll das heißen?« fragte Harris verwirrt.
»Kommt schon, Leute«, sagte sie mit neu aufkommender Wut im Bauch. »Wenn ihr versucht, mich auf den Arm zu nehmen, dann werdet ihr eure Druckhelme als Nachttopf benutzen. Ich will ein paar Antworten. Jetzt.«
»Verraten Sie uns die Fragen?« erkundigte sich Dubois distanziert.
Sie fixierte die Frau, die ihren Blick unbeeindruckt erwiderte. Während Harris einen verwirrten und betretenen Gesichtsausdruck aufgelegt hatte, schien die angespannte Situation überhaupt nicht zu Dubois durchzudringen. Es sei denn, ihre Fähigkeiten als Schauspielerin waren noch beachtlicher als ihr Talent, mit Schußwaffen umzugehen.
»Wer seid ihr?« fragte Charity.
»Hören Sie, wenn das ein Witz sein soll ...« begann Harris.
Charity sah ihn an, und ihr Gesichtsausdruck brachte ihn zum Schweigen.
»Dann machen wir es anders«, sagte sie langsam. »Ich rede, und ihr nickt zustimmend mit dem Kopf. Könnte sein, daß wir auf diese Weise eine Menge Zeit sparen.«
Niemand erhob einen Einwand.
»So wie ich die Sache sehe, seid ihr beide zu gut, um wahr zu sein. Ich halte euch für Fälschungen. Die Jared haben euch ausgebrütet, wenn ihr mir das Wortspiel freundlicherweise nachsehen wollt.«
»Blödsinn«, sagte Harris aufgebracht.
Charity ignorierte ihn. »Sie haben sich einige der ausgebrannten Schalen genommen, die an den Lebenserhaltungsgeräten im Bunker hingen, und haben sie mit einem Namen, einer Identität und genug Erinnerungen ausgestattet, um ein paar Monate Gespräche auszufüllen. Und dann haben unsere Freunde diesen Kunstpersonen eine Uniform angezogen und uns erzählt, es handele sich um Freiwillige, denen man im Schnellverfahren Waffenkunde und technische Kenntnisse vermittelt hat.«
»Und einiges Geschick im Schachspiel«, warf Skudder ein. Sein Tonfall ließ nicht erkennen, ob er ihr wirklich zustimmte. Harris gab ein verächtliches Geräusch von sich.
»Ich habe beobachtet, wie sich die Jared die Soldaten aus dem Bunker geholt haben«, sagte Charity. »Ich habe gesehen, wie sie sich die Schläfer geholt haben. Ich weiß nicht, was sie in Paris und anderswo getan haben, um Freiwillige zu bekommen.« Sie fixierte Dubois. Deren Haare waren inzwischen wieder dunkler geworden, aber dafür waren sie länger. »Soweit es mich betrifft, denke ich, daß niemand von den Soldaten, die Stone mir unterstellt, zu den Überlebenden gehört und sich freiwillig gemeldet hat. Ich bin nicht eitel genug, um diese blödsinnigen Märchen über meinen Ruhm in den Ruinen zu glauben.«
Dubois straffte sich, aber sie entgegnete nichts. Charity ging um das Pult herum und blieb zwei Meter vor der Frau stehen.
»Wer sind Sie?« fragte sie.
»Dubois, Marie«, antwortete die andere ruhig. »Geboren im vierten Distrikt von Paris am ...«
»Blödsinn«, unterbrach Charity. »Sie wurden irgendwann vor ein paar Monaten geboren, nicht wahr?« Dubois zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Dieser Körper ist mindestens achtzig Jahre alt, natürlich.« Charity ging näher an die Frau heran. »Irgend jemand hat einen Fehler gemacht, Dubois. Ich habe diese Frau gesehen, bevor sie zu Ihnen wurde.«
»Tatsächlich.«
»In einem der Labors im Bunker, umgeben von Jared. In einer Station für unheilbare Fälle. Ich habe das Gesicht nicht sofort wiedererkannt. Die Haare waren damals schwarz, nicht so farblos, und das Gesicht von Schmerzen gezeichnet und gleichzeitig seltsam ausdruckslos.« Sie lächelte freudlos. »Es ist seltsam, wie sehr sich ein Gesicht verändern kann, wenn die Person hinter diesem Gesicht sich verändert hat ... oder nicht mehr existiert.«
Auf Dubois’ Lippen lag der Anflug eines Lächelns. Es kam selten genug dazu, daß sie ihre unheimliche Beherrschung so weit lockerte, eine menschliche Regung zu zeigen. Harris sah von einer zur anderen, als hätten beide Frauen den Verstand verloren, und Skudder kam vorsichtig näher.
»Erinnern Sie sich manchmal daran, Dubois? Daran, wer Sie vorher gewesen sind, meine ich?«
Dubois verzichtete auf eine Antwort.
»Ich vermute, daß dieses Selbstmordunternehmen der Moroni uns zu viele Verluste zugefügt hatte. Delgard, Tribeaux ... sind Sie Tribeaux’ Ersatzmann, Dubois? Nun, Sie sind nicht so überzeugend ausgefallen wie unser schachspielender Geizkragen hier.« Sie löste den Blick von Dubois und sah Harris an. »Einen schottischen Zweig in der Familie, John?«
»Ich bin mir keiner Schuld bewußt«, sagte Harris ehrlich.
»Natürlich.« Charity nickte. »Der Computer im Bunker kannte keinen Harris. Der zu Recht dahingegangene Gouverneur Stone wollte mir einreden, ich hätte keine ausreichende Autorisierung gehabt, aber seit Krämers Tod waren die Systeme offen!« Sie erlaubte sich ein mattes Grinsen. »Ich habe selten Probleme mit Computern, wissen Sie.«
»Hören Sie«, sagte Harris und breitete die leeren Hände aus. »Ich weiß nicht, auf welchem Trip Sie sind, aber ich weiß, wer ich bin. Ich erinnere mich daran, zur Schule gegangen zu sein, ich erinnere mich an meine Eltern, ich weiß, wie ich aufgewachsen bin, wer meine erste Freundin war, wie ich auf die schwachsinnige Idee gekommen bin, zur Armee zu gehen, wie man mich eingefroren hat ....« Er legte die Hände an die Brust. »Ich weiß sogar noch, wo ich dieses verdammte T-Shirt gekauft habe. Erzählen Sie mir nicht, wer ich bin.«
»Tut mir leid«, sagte Charity. »Für sich genommen sind Sie sehr überzeugend, John, aber die da ist ein ganz anderer Fall.« Sie fixierte Dubois. »Wo kaufen Sie Ihre Kleider, meine Liebe?«
Dubois wartete noch ein paar Sekunden, bis sie sicher war, daß Charity nicht weitersprach. »Er sagt die Wahrheit, wissen Sie«, meinte sie dann und deutete mit einer Kopfbewegung auf Harris.
»Jeder so gut wie er kann«, antwortete Charity knapp. »Er kann von sich selbst glauben, was er will, aber deswegen muß ich ihm noch lange nicht zustimmen.«
Dubois lachte. Erstaunlicherweise hatte sie ein warmes, sympathisches Lachen, das überhaupt nicht zu ihrem verschlossenen, unterkühlten Temperament passen wollte. »Nehmen wir mal an, daß Sie richtig geraten haben«, sagte sie dann und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und nehmen wir an, daß die Jared uns ... perfekt ausgestattet haben. Nehmen wir an, Harris und ich glauben an das, was wir sagen ... was wir sind. Kann sein, daß wir Kunstpersonen sind, aber vielleicht wissen wir es selber nicht. Und vielleicht kommt es darauf auch überhaupt nicht mehr an.«