»Es können nicht mehr viele übrig sein«, sagte Dubois nachdenklich. »Sie werden es nicht riskiert haben, eine Königin hier hinaufzubringen. Nicht, nachdem der Sprung stattgefunden hat.«
»Was zum Teufel haben die hier unten bloß gemacht?« fragte Skudder beklommen. »Uranbergbau hätten sie auch an der Oberfläche haben können.«
»Keine Ahnung«, sagte Charity.
Harris drehte sich um. »Diese Idioten«, sagte er fassungslos. Seine zitternde, sich überschlagende Stimme zeigte, daß er am Rand eines Nervenzusammenbruchs stand. »Diese lupenreinen Vollidioten.«
Charity warf Skudder einen verwirrten Blick zu. »Was ist los?«
»Sehen Sie nur.« Harris’ Stimme schwankte vor aufrichtiger Empörung. »Diese von allen guten Geistern verlassenen insektoiden Narren. Diese algenfressenden Nachtwächter. Sie haben die ganze Grube hier herunter geschafft, Bagger, Bänder, Beleuchtung, Kraftwerke und Kabeltürme, einfach alles. Die ganze verdammte Grube ...«
»Na und ...« begann Skudder.
»... einschließlich der beschissenen Verbotsschilder.« Harris begann hysterisch zu lachen, und der Lichtkegel seines Handscheinwerfers begann zu tanzen, aber Charity konnte trotzdem noch den Text des Schildes erkennen, das sauber und akkurat an einer der Trägersäulen vor ihnen angebracht war.
»Unbefugten ist das Betreten der Anlage untersagt«, las sie laut und begann ebenfalls zu lachen. Nahezu vom ersten Tag hatte sie gewußt, daß die Moroni in technischer Hinsicht Dummköpfe waren, fähig nachzuahmen, aber unfähig, die einfachsten Zusammenhänge zu begreifen. Jetzt, Monate später, kurz vor dem vermutlichen Ende eines Krieges, der die ganze Welt vernichtet hatte, begriff Charity wirklich, was dieser Satz bedeutete.
Sie starrte auf das rotgelbe Schild und lachte Tränen, und hinter ihr fiel Skudder auf die Knie und hielt sich den Bauch. Später einmal sollte sie begreifen, wie nahe sie alle in diesem Moment daran waren, den Verstand zu verlieren, aber für solche Gedanken hatte sie keine Zeit, während drei Lichtkegel immer wieder über das nutzlose Schild tanzten.
»Okay, wir haben unseren Spaß gehabt«, sagte Charity dann endlich. »Schluß jetzt.« Es wird Zeit, diesem Spuk ein Ende zu machen.
Die anderen sahen ihr Gesicht, geisterhaft bleich im Schein der Helmbeleuchtung. Der Anblick ernüchterte sie schlagartig.
Sie deutete auf eine der aufragenden Raupenketten. »Da vorne ist eine Leiter. Wir werden dich dort vorne absetzen, 370/98.«
»Es hat wohl wenig Sinn ...« begann der Würfel maulend.
»Hat es nicht«, schnitt ihm Charity das Wort ab.
Sie ließen auch die Bombe auf einer Plattform am Fuß der Steigleiter zurück und kletterten die zwanzig Meter bis zum Cockpit des Schaufelbaggers hinauf. Keiner von ihnen verlor ein Wort, bis sie die Zugangsluke geöffnet und die Steuerzentrale betreten hatten.
Charity ließ den Scheinwerfer über die Pulte und Bildschirme wandern. Das Baggercockpit erinnerte an die Zentrale eines Öltankers. »Keine Toten«, sagte sie schließlich erleichtert.
Harris ging die Sitzreihe entlang und schob sich in den Beifahrersitz.
»Sie glauben wirklich, daß Sie das Ding in Bewegung setzen können?« fragte er ungläubig und sah die großen Schaltfelder an.
Skudder seufzte. »Warten Sie’s ab«, sagte er. »Die Maschine, die sie nicht kaputtkriegt, ist noch nicht gebaut worden.«
»Danke für das Vertrauen, Leute«, sagte Charity und schwang sich in den Fahrersitz, indem sie eine Vorwärtsrolle über die Rückenlehne machte, die in der niedrigen Schwerkraft ausgesprochen elegant ausfiel.
»Und?« fragte Harris spöttisch, während sie ratlos die Armaturen betrachtete.
»Gebt mir ein wenig Zeit«, sagte sie und warf ihm einen Blick zu. »Wie wäre es, wenn ihr euch ein wenig umseht.«
Harris machte keine Anstalten, sich zu erheben.
»Draußen«, betonte sie.
»Oh.« Er erhob sich hastig. »Schon verstanden. Kommen Sie«, sagte er zu Skudder, »wir sehen nach, ob die Bremslichter noch funktionieren.«
8
Je höher er stieg, desto heißer wurde es. Anscheinend sammelte sich die Hitze unter dem Deckengewölbe der Blase, und inzwischen hatte er eine Höhe erreicht, in der es keine Thermik gab. Es gab überhaupt keine Luftbewegungen mehr. Selbst das Atmen fiel ihm schwer. Es war, als müßten seine Lungen heißen, zähen Honig pumpen. Seine Kehle war vollkommen ausgetrocknet, Schleimhäute und Augen schmerzten bei jeder Regung. Sein Körper hatte die Reserven an Feuchtigkeit und Tränenflüssigkeit verbraucht. Allerdings schwitzte er noch immer, und die heiße, trockene Luft entzog ihm immer mehr Wasser. Hartmann vermutete, daß er in den letzten sechzig Minuten mindestens sechs Kilo Gewicht verloren hatte.
Er hatte seine wunden Hände mit schweißgetränkten Fetzen seiner Uniform umwickelt und kletterte mühsam Meter um Meter. Das größte Hindernis war nicht sein eigenes Gewicht, sondern die Tatsache, daß die Drahtoberfläche relativ wenig Halt bot.
Er erreichte eine Verzweigung. Mehrere verschieden starke Drähte liefen in einem Knoten zusammen. Keuchend ließ er sich zwischen die Drähte sinken und schloß die Augen.
Hartmann konnte sich ziemlich sicher sein, die Moroni abgeschüttelt zu haben. Anscheinend war selbst eine Ameise nicht dumm genug, sich auf eine derartige Kletterpartie einzulassen. Außerdem waren die glatten Chitinpanzer und die groben Greifzangen nicht gerade das beste Inventar für einen Bergsteiger oder Trapezartisten. Es war an der Zeit, umzukehren und sich an einer anderen Stelle der Galerie abzuseilen, um sich davonzustehlen.
»Immerhin habe ich eine Verabredung«, spottete er über sich selbst und öffnete die Augen.
Gerade rechtzeitig genug, um die Spinne zu sehen.
Tatsächlich sah das Wesen mehr wie eine vielbeinige Krabbe aus. Der Körper war rund wie eine Kugel, dicht mit drahtigen Haaren bedeckt, die aussahen, als könnte man problemlos ein Telefonbuch mit ihnen zerschneiden. Zwei zusätzliche Extremitäten, die wie Klauenarme wirkten, sahen aus, als habe man sie nachträglich am Körper befestigt. Das Maul war eine dreieckige Schnittwunde, angefüllt mit spitzen Zähnen, und die Augen schimmerten in ihrem eigenen Licht. Hartmann hielt es durchaus für möglich, daß dieses Wesen in seinem Leib selbst die Drähte produzierte, die sich überall in der Blase spannten.
Er verfluchte sich für seinen Leichtsinn. Natürlich hatten die Moroni irgendwelche Wächter zurückgelassen, die sich um das Drahtgewirr kümmerten und es von Störungen befreiten. Seine Kletterei mußte kilometerweit reichende Schwingungen ausgesandt haben. Vielleicht hatten die Moroni dieses Wesen wie einen Suchhund auf seine Fährte gesetzt.
Die Spinne hockte reglos zehn Meter unter ihm und sah zu ihm empor. Seltsamerweise waren ihre Augen dunkelblau, und der Blick wirkte wach und aufmerksam. Die Beine hatten sich um drei Drähte verschlungen, die bis zu dieser Stelle parallel verliefen, sich dann aber umeinander schlangen und in verschiedene Richtungen auseinanderliefen. Nach einer Weile begriff Hartmann. Das Wesen hatte sich den falschen Weg ausgesucht und wartete nun auf seinen nächsten Zug, bevor es sich entschied, welchen Weg in dem dreidimensionalen Irrgarten des Drahtgeflechtes es beschreiten wollte.
Hartmann spähte aufmerksam nach unten. Es sah so aus, als ob sein Verfolger ein ganzes Stück wieder nach unten klettern müßte, bevor er eine geeignete Abzweigung finden konnte. Hartmann hatte also einen kleinen Vorsprung. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als die Spinne träge mit einem Bein wackelte. Er sah sich hastig um, ob vielleicht noch andere der scheußlichen Kreaturen in seine Nähe gekommen waren, aber es war nichts zu sehen.