Der Löwe zeigt die Krallen
Die Söhne
Die drei Knaben balgten sich auf dem Teppich wie junge Löwen. Sie griffen sich in die Strubbelköpfe, kreischten und schnauften. Hannibal warf sich auf Hasdrubal. Magon umklammerte Hannibals Hals und versuchte ihn wegzuzerren. Sie spielten Krieg. Hannibal war der Römer, und seine Brüder waren die Karthager. Die Streitkräfte hielten sich die Waage - Hannibal war neun, und seine Brüder waren, wenn man ihre Lebensjahre zusammenzählte, ebenso alt.
„Ergebt euch!" schrie Hannibal mit funkelnden Augen. „Ergebt euch, ihr Hunde!"
Aber die Kleinen dachten nicht daran. Magon kniff Hannibal in den Arm. Der holte aus, um dem bösen Feind eine Lehre zu erteilen. Diese Gelegenheit benutzte Hasdrubal, um ihm ein Bein zu stellen.
Hamilkar, ihr Vater, stand hinter dem Vorhang und beobachtete sie. Seine wulstigen Lippen zuckten, wie immer, wenn er erregt war. Vor vielen Jahren hatte er sich in demselben Zimmer, auf demselben Teppich mit seinen Brüdern gebalgt. Damals spielte er mit ihnen Karthager und Griechen. Doch später, als erwachsener Mann, führte er nicht gegen die Griechen, sondern gegen die Römer Krieg. Dreiundzwanzig Jahre dauerte dieser Krieg. Er nahm ihm seine Brüder und seinen Ruhm und endete mit einem demütigenden Frieden. Und während Karthago an den unerträglich hohen Tributen zahlte, mißbrauchten die Sklaven und Söldner seine Schwäche zu einer Meuterei. Auf diese Weise war Hamilkar gezwungen gewesen, gegen Männer zu Felde zu ziehen, die vorher unter seiner Führung in Sizilien gekämpft hatten. Er besiegte sie mit Hilfe der Elefanten und ließ sie kreuzigen, obgleich sie in der Vergangenheit seine tüchtigen Krieger gewesen waren. - Wo sollte er nun Ersatz für sie finden?
Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, hatte sich der kleine Hannibal auf Hasdrubal geworfen und fuchtelte mit den Fäusten, um sich Magon vom Leibe zu halten.
„Rom hat gesiegt", johlte Hannibal.
Hamilkar fuhr zusammen, und das Blut schoß ihm ins Gesicht. Bis in sein eigenes Haus verfolgten ihn diese Worte, die wie eine schlecht verheilte Wunde schmerzten, wie eine Ohrfeige brannten. Er stürzte zu den Kindern. „Haltet den Mund!" schrie er.
Die Kinder sprangen erschrocken auf und blieben mit gesenktem Kopf vor dem Vater stehen. Seine Gegenwart schüchterte sie stets ein, weil sie ihn so selten zu Gesicht bekamen und gleichzeitig von ihrer Umgebung soviel über ihn hörten. Sein Name verband sich für sie mit den fremdartig klingenden Bezeichnungen von Städten und Ländern, in denen er Schlachten geschlagen hatte. Sie eiferten ihm in ihren Spielen doch nur nach. Trotzdem schalt er sie. Warum?
Magon preßte die kleinen Fäuste an die Augen und brach in Tränen aus. Hasdrubal verzog schmollend den Mund. Hannibal blickte forschend und verständnislos zu seinem Vater auf.
Dieser vorwurfsvolle Blick brachte Hamilkar zur Besinnung. Er war täglich darauf gefaßt, in jenes Land einzugehen, aus dem es keine Rückkehr gibt. Das war das Los eines Kriegers. Und immer, wenn ihn die Pfeile umschwirrten und neben ihm die Männer fielen, dachte er an seine Söhne. Er hoffte, daß sie nicht nur die wulstigen Lippen, das schwarze Haar und die gewölbte Stirn von ihm geerbt hatten, sondern auch seine Art zu denken. Oder war das nur Selbsttäuschung? Würden seine Söhne ein anderes Leben führen als er, mit einem anderen Ziel, mit anderen Wünschen? Wenn junge Löwen herangewachsen sind, zerstreuen sie sich in alle Welt. Gedenken sie dann noch ihres Löwenvaters, der ihnen einst die Beute in die Höhle brachte?
Überraschend zärtlich drückte Hamilkar die erhitzten Kinder an sich. Ja, es waren seine Söhne, seine jungen Löwen. Im vergangenen Jahr hatten sie die Mutter verloren und im Jahr davor die große Schwester. Er selbst war selten daheim; sie kannten ihn kaum. Sie hatten keinen, der sie liebkoste, der ihre kindlichen Freuden und Kümmernisse teilte. Verlassene junge Löwen!
„Hört auf zu flennen, ihr seid doch Krieger!" murmelte Hamilkar. „Hannibal, zieh dich an, ich will dir die Elefanten zeigen!"
Elefanten in Karthago
Karthago begrüßte die Elefanten. Alle Straßen vom Handelshafen, wo die Tiere von den Schiffen geholt wurden, bis hinauf zur Stadtburg Byrsa waren von einer lärmenden, festlich gestimmten Menge gefüllt. Das Schauspiel war offenbar keinem Karthager gleichgültig. Wer auf den Gehsteigen und Fahrdämmen keinen Platz gefunden hatte, setzte sich auf die flachen Ziegeldächer. Die Knaben kletterten auf die Bäume, die Sockel der Statuen und die Tempelmauern.
„Sie kommen!" dröhnte es durch die Stadt.
„Es lebe Hamilkar!" rief jemand. Die Menschen klatschten Beifall.
Zwischen den hohen Häusern einer engen Gasse tauchte der erste Elefant auf. Über Rücken und Flanken war eine bunte Satteldecke gebreitet, auf der er einen lederbezogenen Gefechtsturm trug. Der Turm war unbesetzt; davor saß ein Mann, der einen Eisenstachel in der Hand hielt. Sein weiter Mantel wurde von einem schwarzen Stoffgürtel zusammengehalten. Unter dem weißen Turban funkelten lebhafte schwarze Augen. Würdevoll grüßte er mit dem Stachel, als gälte der Beifall ihm und nicht Hamilkar, der diese Elefanten der Republik Karthago geschenkt hatte.
Sur, der Leitelefant, tappte vorsichtig durch die Straßen und beschnupperte dabei mit dem Rüssel den Fahrdamm. Zum erstenmal seit vielen Tagen hatte er keine schwankenden Schiffsplanken mehr unter den Füßen, sondern sonnenwarme Steine. Aber auch sie hatten einen unbekannten Geruch, den Geruch der Fremde.
„Drei... fünf... neun ... zwölf Elefanten!" zählten die Zuschauer. Zwölf indische Giganten! Noch niemals war eine Elefantenherde mit solcher Begeisterung in Karthago begrüßt worden.
Die Ställe, die sich in der Stadtmauer befanden, faßten dreihundert Elefanten, doch der Krieg gegen die meuternden Sklaven und Söldner hatte sie geleert. Seitdem hausten hier die Landstreicher und Bettler, die man aus diesem Grunde spöttisch als Elefanten bezeichnete. Und den Rüssel ausstrecken hieß soviel wie betteln.
Nun aber würden die gewaltigen Nischen in der Stadtmauer wieder echte Kampfelefanten aufnehmen.
Die begeisterten Menschen geleiteten die Elefanten bis zu den mit Palmwedeln und Blumen geschmückten Ställen. Dann blieben sie trotz der Hitze davor stehen und sahen zu, wie die Elefanten von den indischen Treibern in die neue Behausung geführt und dort mit Rindertalg eingerieben wurden.
In der Menge stand einer, der sich als Elefantenfachmann bezeichnete und schnell von Neugierigen umringt wurde. Er berichtete mit Feuereifer, wie stark, klug und vernunftbegabt die Elefanten seien.
„Im Krieg gegen Sizilien", sagte er, „war unser Lager etwa vier Meilen vom römischen Lager entfernt. In einer dunklen Nacht, als die erschöpften Krieger schliefen, erhoben die Elefanten plötzlich ein lautes Gebrüll. Daran erkannte unser Feldherr, daß sich der Feind näherte. Die Elefanten haben nämlich einen außerordentlich feinen Geruchssinn, und sie können den Gestank von gebratenen Zwiebeln, den die Römer an sich haben, auf den Tod nicht leiden."
Seine Zuhörer lachten.
„Der Elefant ist das stärkste Tier auf Erden", fuhr der Mann fort. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Elefant einem Löwen den Hals umdrehte und ihn mit dem Rüssel hochschleuderte wie ein junges Kätzchen. Und im Krieg gegen die Römer wurde einmal die gesamte feindliche Kavallerie von nur drei indischen Elefanten vernichtet."
Die Zuhörer belohnten diese patriotische Lüge mit lautem Beifall.
„Als wir in Marokko einmal nachts auf die Jagd gingen, erblickten wir plötzlich mehrere dunkle Hügel. Beim Näherkommen stellten wir fest, daß es Elefanten waren. Sie saßen im Kreise, hatten den Rüssel gen Himmel gereckt, schauten zum Mond auf und brüllten so kläglich, daß uns die Tränen kamen. Sie beteten zu Tanit, der Göttin des Mondes und der Liebe."