Hannibal wußte nicht, ob Hasdrubal diese Geschichte kannte, jedenfalls tat er das gleiche wie Alexander. Er heiratete Regile, die achtzehnjährige Tochter eines iberischen Königs.
Sie saß an der Hochzeitstafel neben ihm.
Hannibal betrachtete ihr kreideweißes Gesicht und ihr weißes Brautgewand, das über der Brust mit einer schweren Silbernadel zusammengehalten wurde, und dachte an Masinissa und seine Liebe zu Sophonisbe. Mit welcher Leidenschaft hatte der Numidier von dem Mädchen gesprochen, das er erst wenige Stunden kannte! Hasdrubal dagegen hatte sich schon seit einem Jahr auf die Hochzeit vorbereitet und häufig mit Hannibal über die Vorteile dieser Heirat geredet. Doch keinmal hatte er ihm geschildert, was für Augen die Braut hatte, wie ihre Stimme klang und wie sie gekleidet war.
Erst jetzt entdeckte Hannibal, daß die Braut blaue Augen hatte; aber sie waren gerötet, und in der Zinnoberschminke, die ihre Wangen bedeckte, hatten die Tränen weiße Rinnsale gebildet. Nahezu alle Hochzeitsgäste wußten, daß ihr Vater sie an Stelle des Jahrestributs an Hasdrubal verschachert hatte und daß sie den jungen Iberer Wlamun liebte, dem sie seit ihrer Kindheit versprochen war.
Aber bei den Gästen schlug die Festfreude hohe Wogen. Karthagische, sizilianische und gallische Weine flössen in Strömen. Die berauschten karthagischen Offiziere schworen ihren iberischen Zechgenossen und ehemaligen Feinden in gebrochenem Iberisch ewige Freundschaft und schlossen sie zärtlich in die Arme. Plötzlich ertönten iberische Hörner, Knochenklappern rasselten, und drei iberische Krieger sprangen in den Saal.
Sie trugen Masken vor dem Gesicht und hielten funkelnde Dolche in der Hand.
„Ein Waffentanz, ein Waffentanz!" riefen die Gäste entzückt, sprangen von den Plätzen und klatschten im Takt.
Auch Hasdrubal erhob sich, eine iberische Weinschale in der Hand. Doch da wurde die Musik von einem Schrei des Entsetzens übertönt. Ein Tänzer hatte sich auf Hasdrubal gestürzt und ihm den Dolch bis zum Griff in die Brust gebohrt.
Hasdrubal stürzte tot zu Boden. Der Mörder blieb vor ihm stehen, die Arme über der Brust verschränkt. Die Maske war ihm vom Gesicht gefallen. Er lächelte. Sein entschlossenes gebräuntes Antlitz verriet weder Angst noch Verwirrung.
Mit ausgestreckten Armen taumelte die Braut auf ihn zu.
„Wlamun!" stammelte sie. „Wlamun!"
Keiner der Gäste rührte sich. Niemand stürzte sich auf den Mörder, um ihn zu packen, ihm die Hände zu binden, ihm das Lächeln aus dem Gesicht zu prügeln.
Hannibal spürte, daß sich alle Blicke auf ihn richteten. Der Dolchstoß setzte einen blutigen Punkt unter die Herrschaft Hasdrubals, mochten ihm die Götter der Unterwelt gnädig sein! Jetzt ging die gesamte Macht über das Heer, über das eroberte Land und - welch bedrückender Gedanke! - auch über das Schicksal des Vaterlandes auf ihn, Hannibal, über. Er duckte den Kopf, als legte sich eine unsichtbare Last auf seine Schultern.
Belagerung von Sagunt
Die iberische Stadt Sagunt führte ein friedliches Leben. In den Gärten vor der Stadt reiften gelbe Birnen und rote Granatäpfel, und die Bauern pflückten die reiche Ernte in große Körbe. Im Handwerkerviertel drehten sich von früh bis spät lautlos die Töpferscheiben. Fleißige Hände formten den berühmten saguntinischen Ton, der leichter ist als Wasser. Das in unterirdischen Töpferöfen gebrannte Geschirr hatte einen rostbraunen Schimmer, der überall dort hoch geschätzt wurde, wo man von Tongeschirr etwas verstand.
Die Fischer brachten in Schilfkörben die Gaben des Meeres auf den Markt - Fische mit Glotzaugen und große Hummer, deren Schnurrbarthaare und Kneifzangen zuckten. Die reichen saguntinischen Kaufleute saßen am Marktplatz in den Schenken und verpraßten ihren Gewinn. Kleine Jungen spielten auf der Straße.
Im Morgengrauen, zur Stunde des Hahnenschreis, näherte sich Hannibal der Stadt. Nur wenigen Einwohnern der umliegenden Dörfer gelang es, sich hinter die Stadtmauer zu retten. Die Posten auf den Wachtürmen sahen ohnmächtig zu, wie die karthagischen Söldner in die Vororte strömten, die Häuser plünderten, das Vieh davontrieben, die weinenden Frauen und die verzweifelt schreienden Männer in die Sklaverei verschleppten.
Die Stadtältesten riefen das Volk zum Widerstand auf. Die Schmiede, die bisher Sensen und Sicheln angefertigt hatten, konstruierten jetzt Armbrüste und Schleuderwaffen. Die Maurer reparierten die schadhaften Stellen in der Stadtmauer. Auch die Kinder waren nicht müßig. Sie brachten den Kämpfern Pfeile auf die Stadtmauer, hielten die offenen Feuer in Gang, über denen Wasser erhitzt wurde, und schleppten Steine zu den Wurfgeschützen.
Da es Hannibal nicht gelungen war, die Saguntiner zu überrumpeln, belagerte er sie.
Er haßte die Stadt, weil sie mit Rom verbündet war, und er hatte das Gefühl, daß ihre Mauern ihm den Weg nach Rom versperrten.
Sagunt war in Form eines schiefen Rechtecks erbaut, dessen südliche Spitze in eine weite Ebene vorstieß. An dieser Stelle ließ Hannibal einen vielstöckigen wandelnden Turm errichten. Die dem Gegner zugewandte Seite hatte in jedem Stockwerk Schießlöcher, durch die man mit kleinen Wurfgeschützen Steine und Pfeile schleuderte.
Um den Turm an die Stadtmauer heranrollen zu können, mußte der Boden vorher eingeebnet und festgestampft werden. Nach Hannibals Berechnung konnte diese Arbeit höchstens zwei Wochen dauern. Aber die belagerten Saguntiner verhinderten das. Nachts überfielen mutige saguntinische Jünglinge die karthagischen Wachposten, tagsüber prasselten ständig Steine und Pfeile auf die Rollbahn vor dem Turm herab.
Da die Karthager ihre großen Wurfgeschütze noch nicht aufgestellt hatten, fühlten sich die Saguntiner so sicher, daß sie auf die Stadtmauer kletterten und von dort aus die Karthager beschimpften. Oder sie steckten Zettel auf ihre Pfeile und schossen sie zu den Belagerern hinüber.
„Ihr karthagischen Esel habt euch eine Beute ausgesucht, die euch im Rachen steckenbleiben wird, so daß ihr daran erstickt!" las Hannibal auf einem Zettel.
Ein Saguntiner, der einen dunkelblauen Umhang trug, hielt sich ein Metallrohr an den Mund, das seine Stimme verstärkte, und überschüttete Hannibal von der Stadtmauer herab stundenlang mit den unflätigsten Schimpfworten.
Schließlich riß Hannibal die Geduld.
„Ruft Tirnes her!" befahl er.
Tirnes, der Kommandeur der balearischen Söldner, erschien unverzüglich. Über Schultern und Brust trug er ein Schaffell. An seinem breiten Ledergürtel hing ein mit Steinen gefülltes Ledersäckchen.
„Siehst du dort den Schreihals im dunkelblauen Umhang?" fragte der Feldherr. „Triff ihn!"
Ruhig nahm Tirnes das Schaffell von den Schultern und warf es zu Boden. Er trug drei schwarze Schnüre verschiedener Länge um den Hals. Prüfend blickte er zur Stadtmauer hinüber, wählte dann die mittlere Schnur, holte einen feigengroßen Stein aus seinem Säckchen, legte ihn in die Schlinge der Schnur und holte aus. Der Stein pfiff durch die Luft und fegte den Mann im dunkelblauen Umhang von der Mauer.
In das Triumphgeschrei der karthagischen Söldner mischten sich die Schreckensrufe der Belagerten.
Tirnes hob inzwischen gelassen das Schaffell auf und legte es sich wieder um die Schultern.