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„Ich wollte schon lange wissen, welcher Gott dich deine Kunst gelehrt hat!" sagte Hannibal.

„Der Gott des Hungers", gab Tirnes zur Antwort. „Als ich ein Knabe war, legte der Vater einen Fladen auf die Erde und gab ihn mir erst, nachdem ich ihn mit der Wurfschleuder getroffen hatte."

„Lebt dein Vater noch?" 

„Ja, er geht noch auf die Ziegenjagd." 

„Dann übersende ihm dies." Hannibal gab dem balearischen Schleuderer einen Silberbarren. „Sage ihm, das Silber sendet ihm der Gott des Krieges zum Lohn dafür, daß er einen so treffsicheren Schützen erzogen hat."

Hannibal dachte noch lange über Tirnes' Worte nach. Der Gott des Hungers - besser kann man es nicht ausdrücken! Er trieb all diese Gallier, Balearen, Iberer in mein Heer. Was geht Karthago sie an? Sie sind Söldner und werden mir nur so lange die Treue halten, wie sie sich satt essen und Silberstücke in den Beutel stecken können. Auf dieses Silber warten ihre alternden Väter, ihre jungen Bräute, ihre Ehefrauen. Sein Klang ruft sie lauter als jedes Hornsignal zum Sturm auf die feindlichen Mauern und zwingt sie, Schmerzen und Erschöpfung zu ertragen. 

Die römische Abordnung

Besorgt beobachteten die Römer die Ereignisse in Iberien, ohne daß sie in der Lage gewesen wären, sich in die iberischen Angelegenheiten einzumischen, denn ihre Streitkräfte waren durch Gefechte auf dem Adriatischen Meer gebunden.

Selbst als Hannibal das mit ihnen befreundete Sagunt in der eindeutigen Absicht überfiel, einen Krieg vom Zaun zu brechen, entschlossen sie sich nur, eine Abordnung zu ihm zu schicken.

Geleitet wurde die Abordnung von dem Senator Valerius Flaccus. Er hatte den Auftrag, Hannibal an den Vertrag zu erinnern, den Rom mit seinem Vorgänger Hasdrubal geschlossen hatte, und mit einer Kriegserklärung zu drohen, falls Hannibal Sagunt nicht in Ruhe ließ.

Zwei Wochen brauchte Valerius Flaccus für die Fahrt von der römischen Hafenstadt Ostia zu der iberischen Hafenstadt Tarragona, zwei weitere Wochen für die Reise von Tarragona nach Sagunt.

Da Sagunt eine halbe Meile vom Meer entfernt lag, wußten die Belagerten nichts vom Eintreffen der römischen Abordnung, die ja ohne Einverständnis der Karthager nicht in die Stadt gelangen und die Saguntiner in ihrem Kampfeswillen bestärken konnte.

Als die Römer landeten, war Hannibal gerade mit der Aufstellung von Rammbalken beschäftigt. Das waren lange dicke Balken, die mit Ketten an der Oberseite fester Holzrahmen hingen. Ihre eisenbeschlagenen Spitzen hatten die Form eines Hammelkopfes. Darüber war ein hölzernes Schutzdach angebracht, mit angefeuchteten Ochsenhäuten bezogen.

Hannibal lächelte spöttisch, als man ihm die Ankunft der Römer meldete.

„Bestelle ihnen", trug er seinem Bruder Magon auf, „daß ich augenblicklich außerstande bin, sie zu empfangen. Unsere Feinde machen überraschende Ausfälle aus der Stadt, und dabei könnte die Abordnung unter Umständen verwundet oder gar getötet werden. Die Sicherheit des ehrenwerten Senators Valerius Flaccus geht mir über alles. Deshalb möge er das Ende der Belagerung abwarten."

Nach kurzer Zeit kam Magon zurück.

„Valerius Flaccus platzte fast vor Wut, als ich ihm deine Worte ausrichtete. ,Dann werde ich in Karthago Gerechtigkeit suchen!' schrie er. Jetzt hat Hannibal keine Zeit, mich zu empfangen, aber er wird sie im Überfluß haben, wenn ich ihn in Ketten nach Italien führe!'"

Hannibal strich sich nachdenklich den Bart. „Bruder", sagte er dann, „du wirst nach Karthago reisen müssen. Falls sich die Römer im Großen Rat beschweren, werden sie bei Hanno und seinen Speichelleckern Verständnis finden. Wir müssen unsere karthagischen Freunde rechtzeitig vom Eintreffen der römischen Abordnung informieren. Und hiermit sollst du uns die Herzen der Schwankenden geneigt machen."

Er zeigte auf die Ledersäcke, die in einer Ecke des Zeltes lagen.

„Was ist darin?" fragte Magon.

„Silber. Hast du noch nicht bemerkt, daß die Waage so lange schwankt, bis man ein Gewicht auf eine der beiden Schalen legt? Silber wiegt schwerer als alle Zweifel, das sagte schon unser toter Vetter Hasdrubal. Aber du mußt früher in Karthago sein als die Römer. Auf dem Rückweg machst du dann Gula einen Besuch. Er soll uns tausend Reiter senden und mit ihnen Masinissa."

Einen Tag vor den Römern kam Magon in Karthago an. Es gelang ihm, noch rechtzeitig mit Hannibals Freunden zu sprechen und unter denjenigen, die sich bisher weder Hannibal noch Hanno angeschlossen hatten, Geschenke zu verteilen. Valerius Flaccus wurde im Großen Rat mit feindseligem Schweigen angehört. Nur Hanno stellte sich auf seine Seite.

„Hannibal ist eine Gefahr für Karthago!" rief er. „Der Sohn strebt genauso nach der Alleinherrschaft wie einst sein Vater! Es ist empörend, daß sich Hannibal geweigert hat, die Abgesandten des römischen Volkes zu empfangen, die gekommen sind, um für ihre Bundesgenossen einzustehen! Hannibals Überfall auf Sagunt ist ein Anschlag auf die Mauern Karthagos!"

Magon sah, daß die Ratsherren ablehnende Gesichter machten. Manche tauschten sogar spöttische Blicke.

Hanno aber bemerkte das nicht. Seine Stimme war schrill vor Haß. Mit geröteten Augen forderte er, Roms Wunsch unverzüglich zu erfüllen, das Heer von Sagunt abzuziehen, Hannibal den Römern auszuliefern und die Saguntiner zu entschädigen.

Allgemeines Gemurre war die Antwort. Viele Ratsherren sprangen von den Plätzen. „Schmach und Schande!" riefen sie. „Du Verräter! Wieviel haben dir die Römer für diese Rede bezahlt?"

Erstaunt erkannte Magon, daß diejenigen, denen er am Abend zuvor Hannibals Geschenke ausgehändigt hatte, am lautesten schrien. Ja, der Bruder hat recht! dachte er. Silber hat auf der Waagschale ein schweres Gewicht! 

Sagunt fällt

Nachts brachten die Posten einen Überläufer. Das zuckende Fackellicht fiel auf ein Leinenwams, Leinenhosen und Sandalen, deren weißgegerbte Lederriemen bis zu den Knien hochgebunden waren. Auf dem Kopf trug der Saguntiner einen Helm aus Eisenringen mit drei Kämmen - dem Wahrzeichen der adligen Iberer.

„Wer bist du?" fragte Hannibal.

„Man nennt mich Alkon", stieß der Saguntiner hastig hervor. „Ich bin allein gekommen, niemand weiß, daß ich hier bin."

„Was willst du?"

„Gnade im Namen der Götter. Die Straßen der Stadt liegen voller Leichen. Frauen und Kinder sterben vor Hunger. Das Volk will nichts von Unterhandlungen hören. Doch die wahren Patrioten dürsten nach Frieden."

„Du hast gut daran getan zu kommen", erwiderte Hannibal sanft. „Aber du hättest früher kommen müssen. Der Krieg hat mir viel Zeit geraubt, dafür muß Sagunt zahlen. Du kannst deinen Mitbürgern meine Friedensbedingungen ausrichten. Höre zu! Ihr übergebt uns alle Waffen, alles Gold und Silber, das ihr besitzt, und verlaßt mit leeren Händen die Stadt. Ich werde euch einen Ort zuweisen, wo ihr euch ansiedeln dürft."

Alkon taumelte zurück.

„Weshalb antwortest du nicht?" höhnte Hannibal. „Bin ich nicht gnädig? Was wollt ihr mit diesen Trümmern anfangen?" Er zeigte auf die mondbeschienenen Ruinen der Stadtmauern und Wachtürme. „Mögen hier nur noch Wölfe und Schlangen hausen."

„Töte mich, Hannibal!" antwortete Alkon entschlossen. „Jeder, der es wagen würde, den Saguntinern solche Bedingungen zu überbringen, würde hingerichtet werden. Und ich will lieber durch die Hand des Feindes sterben als durch die meiner Mitbürger."

„Glaube ihm nicht, er ist ein Feigling!" rief eine Stimme dazwischen. Aus der Menge, die den Überläufer umringte, trat ein Krieger, der einen Lederhelm auf dem Kopf trug. Hannibal wußte, daß er. Alorkes hieß und schon unter seinem Vater eine Abteilung von iberischen Reitern befehligt hatte.