Hannibal hörte gespannt zu. Er sah in Dukarion den ersten Bürger jenes großen westlichen Reiches, zu dessen Hauptstadt er Rom machen wollte. Nein, er würde nicht nach Karthago zurückkehren, wo man ihn auf Schritt und Tritt beargwöhnte. Er wollte der Herrscher über all diese Menschen werden, die von Rom gequält und gedemütigt worden waren, sein Reich sollte aus ebenso vielen verschiedenen Völkerstämmen bestehen wie jetzt sein Heer.
Der Tempel am Meer
Bei Anbruch des Winters schickte Hannibal seine iberischen Söldner auf Heimaturlaub mit dem Befehl, sich im Frühjahr wieder in Neu-Karthago einzustellen, und begab sich nach Cadiz, um dem Gott Melkart ein Opfer darzubringen und sich mit seinem Bruder Magon zu treffen.
Gewaltige Wogen brandeten gegen den Felsen, auf dem Melkarts Tempel stand. Sie zerschellten krachend, rollten aber hartnäckig immer wieder aufs neue heran, wie wilde Krieger, die von einem unsichtbaren Feldherrn in Angriff und Tod geschickt und zu Wasserstaub verwandelt werden.
Doch immer neue Krieger mit gewölbten Schilden und spitzen Speeren nehmen ihre Plätze ein.
Das majestätische Schauspiel machte Hannibal nachdenklich. Er schmeckte das Salz des Wasserstaubs auf den Lippen, wie einst die Tränen der Mutter, die auf sein Gesicht gefallen waren. Überall ist Kampf! grübelte er. Das Meer kämpft gegen das Ufer, das Ufer gegen den Wind, ein Völkerstamm gegen den anderen. Und was bin ich in diesem Kampf? Ein mächtiger Feldherr oder ein Werkzeug in den Händen noch mächtigerer Gewalten? Bin ich Herr über den Krieg, der vor meiner Geburt begann und mich überdauern wird?
Er zog seinen Dolch aus der Scheide und schleuderte ihn ins Meer.
Schon seit nahezu tausend Jahren brachten die Gläubigen auf diesem Felsen dem Meere ihre Opfer dar. Die phönizischen und karthagischen Kaufleute warfen Silberbarren und Goldmünzen, Bernstein und kostbare Fingerringe in die Fluten, wenn sie von Melkart guten Wind und reichen Gewinn erflehen wollten. Und der Mann, der nun auf dem Felsen stand, warf seine Waffe ins Meer, um Kampfesdurst zu erhalten.
Dann ging er zum Hause des Stadtältesten, wo Magon auf ihn wartete. Aufmerksam lauschte er dem Bericht des Bruders über die Sitzung im Großen Rat, auf der Hanno und seine Anhänger eine Niederlage erlitten hatten. Zuletzt hatte der römische Abgesandte gerufen: „Karthager! Hier bringe ich euch Krieg oder Frieden, wählt!" Und auf die einmütige Antwort: „Wähle selbst!", hatte er den Krieg gewählt.
Magon berichtete außerdem von einer neuen Schar Kriegselefanten, die Richad dressiert hatte und jetzt persönlich nach Iberien bringen wollte.
„Und was ist mit Gula?" fragte Hannibal. „Erfüllt er meine Bitte?"
„Gula versprach, dir eintausendfünfhundert Reiter zu senden. Aber sein Sohn Masinissa wird nicht dabeisein, denn der ist verschwunden."
„Verschwunden? Weshalb?" fragte Hannibal erstaunt.
„Weil sich sein Vater weigerte, ihn bei seiner Werbung um Sophonisbe zu unterstützen. Dann fragte Gula noch, wozu du Masinissa brauchst, da du doch Sagunt eingenommen hättest."
„Sagunt war erst der Anfang. Aus Sagunt führt der Weg nach Rom."
„Nach Rom?" rief Magon. „Aber du vergißt den langen Marsch und die vielen Völkerstämme, die sich uns in den Weg stellen werden!"
„Nein, das habe ich bedacht."
„Und wie willst du deine Krieger im Feindesland verpflegen?"
„Und wenn ich Stiefelleder lutschen müßte, wir ziehen nach Rom!"
Der Sprung
Auf dem Wege zur Rhône
Hannibals Elefanten schreiten voran. Die Gefechtskörbe auf ihren Rücken schwanken wie Schiffe auf dem Meer. Die Söldner stehen am Straßenrand und lassen sie an sich vorüberziehen. Nur wenige von den vielen tausend Iberern, Galliern und Balearern haben schon früher einen Elefanten zu Gesicht bekommen, und es graut ihnen vor diesen Giganten, die so anders aussehen als die Tiere ihrer heimatlichen Wälder und Berge. Die Beine, die den Umfang von jahrhundertealten Eichen haben, verraten eine gewaltige Kraft. Und diese Kraft wird vom Feldherrn Hannibal gelenkt. Er versteht anscheinend nicht nur alle Sprachen der Erde, er besitzt auch Zauberkräfte, die ihn zum Gebieter dieser seltsamen Tiere machen. Auf einen Wink von ihm setzen sie sich in Bewegung und zertrampeln jeden, der es wagt, sich den Karthagern in den Weg zu stellen.
Hannibals Elefanten schreiten voran. Unter ihren Tritten dröhnt und stöhnt die Erde. Aus ihrem Gang sprechen der unbeugsame Wille des Feldherrn und die Unausweichlichkeit seiner Rache. Rom muß vernichtet werden! Rom wird von den karthagischen Elefanten zertreten werden. Viele Tagesmärsche trennen Hannibals Heer noch von Italien. Unzählige Hindernisse - Flüsse, Schluchten, schneebedeckte Berge, kriegerische Völkerstämme - erwarten ihn. Hatten aber diese Elefanten weniger Hindernisse zu überwinden, bevor sie nach Iberien kamen? Um gehorsame Werkzeuge des menschlichen Willens zu werden, mußten sie durch die harte Schule Richads gehen, des Mannes, der so viel wert ist wie ein ganzes Heer. Er vollbrachte das, was keinem anderen gelang. Er zähmte die wilden afrikanischen Elefanten, die man für unzähmbar gehalten hatte.
Rom soll vernichtet werden. Das ist das Ziel des Feldzuges, das einstweilen nur Hannibals nächste Vertraute kennen. Für die übrigen ist der Marsch nach Norden in Richtung der Pyrenäen nichts als eine Eroberung iberischer Gebiete, die die Karthager bisher noch nicht besetzt hatten.
Hannibals Elefanten schreiten voran. Staubwolken wirbeln unter ihren Schritten empor und legen sich auf Pferde, Reiter und Fußsoldaten. Das blühende Tal des Ebro bleibt hinter ihnen zurück. Bei der Hafenstadt Emporium, einer ehemals griechischen Kolonie, deren weiße Häuser traubenförmig am Uferhang kleben, nehmen die Karthager Abschied vom Meer. Sie werfen Haarbüschel ins Wasser und flüstern Beschwörungen. Sie sammeln am Strand feucht glänzende Kiesel, stecken sie in Beutel und hängen sie sich um den Hals oder an den Gürtel.
Dann steigt das Heer in die Berge hinauf. Es stößt auf verlassene Dörfer. Die hier lebenden iberischen Stämme haben ihre Viehherden eilig aus der Reichweite des Heeres fortgetrieben, das gefräßig ist wie ein Heuschreckenschwarm.
Hannibals Elefanten schreiten voran. Die Bergkette der Pyrenäen -Iberiens Grenze - erscheint am Horizont. Jetzt wird allen klar, daß Hannibal etwas Größeres plant als die Eroberung ganz Iberiens. Dreitausend Iberer mit Alorkes an der Spitze weigern sich, ihre Heimat zu verlassen. Hannibal könnte sie umzingeln und von den Elefanten zertrampeln lassen. Aber er tut es nicht. Er weiß, daß sich dann ganz Iberien gegen Karthago erheben würde, und es ist fraglich, ob sein Bruder Hasdrubal, dem er nur zwanzigtausend Kavalleristen, Infanteristen und Marinesoldaten zurückgelassen hat, mit einem Aufstand fertig werden würde. Nach einiger Überlegung gestattet Hannibal sogar allen, die den gefährlichen Feldzug nicht mitmachen wollen, in Iberien zu bleiben. Das sind insgesamt elftausend Mann. Durch diese Maßnahme entledigt er sich gleichzeitig der feigen, unzuverlässigen Krieger, die ihm später nur zur Last fallen würden. Weitere zehntausend Mann beläßt er in dem neu eroberten Gebiet zwischen dem Ebro und den Pyrenäen. Er hat nicht die Absicht, auf die eroberten iberischen Landstriche zu verzichten. Er weiß auch, daß er ein zuverlässiges Hinterland braucht, das durch ein starkes Heer abgesichert ist.
Mühelos überquert Hannibal die Pyrenäen. Zu dieser Jahreszeit liegt kein Schnee auf den Gebirgspässen, und die Berge sind ungefährlich. Er führt fünfzigtausend Fußsoldaten und zehntausend Reiter mit sich. Die aus dicken, in die Erde gerammten Balken bestehenden Häuser mit den spitzen Strohdächern unterscheiden sich nicht von denen, die jenseits der Pyrenäen stehen. Aber Hannibal weiß, daß nun das gewaltige Land beginnt, das von zahlreichen gallischen Stämmen besiedelt ist. Den karthagischen Kaufleuten ist es bisher nicht gelungen, in die Tiefe dieses Gebietes vorzudringen. Sie wagen nicht, sich weit von ihren Schiffen zu entfernen, sie besuchen nur die Niederlassungen am Mittelmeer und am Ozean - der Westküste Galliens. Alles, was Hannibal über Gallien weiß, hat er aus alten Chroniken und aus den Berichten seiner Söldner erfahren.