An den südlichen Ufern Galliens lagen früher phönizische Kolonien, gegründet von unternehmungslustigen Kauffahrern, die auch die ersten Häuser Karthagos bauten. Zu Hannibals Zeit sind diese Landstriche aber wieder von freien Völkerstämmen besiedelt; die griechische Kolonie Marseille bildet die einzige Ausnahme. Die Marseiller sind Verbündete der Römer, und weil Hannibal ihnen seine Pläne nicht preisgeben will, zieht er es vor, sich nördlich von Marseille zu halten.
Der erste Ort, in den sie nach dem Abstieg von den Pyrenäen kommen, ist Illiberis. Zu ihrer Verwunderung hören sie weder Hühner gackern noch Schafe blöken - die übliche Beute hungriger Soldaten. Der Ort wurde von seinen Bewohnern verlassen, ein eindeutiges Zeichen dafür, daß die hier ansässigen gallischen Völkerstämme Hannibal als ihren Feind betrachten und zum Widerstand rüsten. Hannibal befiehlt, mindestens einen Einheimischen ausfindig zu machen. Eifrig durchsuchen seine Krieger Häuser, Scheunen und Ställe, aber sie finden niemanden. Erst gegen Abend bringen ihm Magarbais Reiter, die in die Umgebung ausgeschwärmt waren, einen Hirten, der sich mit seiner Herde in einer Bergschlucht versteckt hatte. Sie berichten, daß es schwieriger war, ihn zu fangen, als ein Dutzend Krieger zu überwältigen, denn er und die Herde wurden bewacht von gewaltigen Hunden, so angriffslustig und wild wie Wölfe.
Als Hannibal den Hirten fragt, wo sich die Bevölkerung des Ortes versteckt hält, knurrt dieser nur.
„Ich warte einen ganzen Tag, und dann bringt ihr mir einen Stummen!" ruft Hannibal.
„Er wird gleich den Mund aufmachen!" entgegnet Magarbal drohend und befiehlt, die Folterwerkzeuge zu holen.
Ein Blick auf die Zangen und den Block mit den Bronzestacheln genügt, um dem Hirten die Zunge zu lösen.
So erfährt Hannibal, daß die Einwohner von Illiberis vor zwei Nächten in ein unweit gelegenes Dorf geflohen sind, wo sich auch die Krieger der anderen gallischen Stämme versammeln.
„Weshalb flieht ihr vor mir?" fragt Hannibal. „Ich führe den Krieg doch nicht gegen euch, sondern gegen die Römer."
„Wir wissen nicht, gegen wen du Krieg führst", erwidert der Hirt, „und wir fürchten, daß du die Absicht hast, uns ebenso zu unterjochen wie die Iberer."
Hannibal schüttelt den Kopf und läßt Dukarion holen.
„Es würde mir zwar keine Mühe machen, eine Handvoll Gallier in die Flucht zu schlagen oder sie von den Elefanten zertreten zu lassen, aber das wäre überflüssiges Blutvergießen. Laß dich deshalb von diesem Hirten zu den gallischen Häuptlingen führen und sage ihnen, daß ich sie zu sprechen wünsche. Sie sollen nach Illiberis kommen."
Die Zusammenkunft findet schon am folgenden Tage statt. Die Häuptlinge erscheinen in pelzverbrämten Umhängen und Lederhelmen. Sie werden von ihren Leibwächtern begleitet.
Erstaunt betrachten sie die Gegenstände, die Hannibal für sie auf einem Teppich aufstellen ließ. Es sind Gefäße, farblos und durchsichtig wie Eis, bronzene Trinkschalen in Form von Stierköpfen und andere Kostbarkeiten.
„Dies alles will ich euch schenken", sagt Hannibal. „Und jene Weinschläuche noch dazu."
Die Häuptlinge nicken befriedigt. Sie freuen sich über die Geschenke und noch mehr über die Aussicht, daß Hannibal ihr Land offensichtlich bald wieder verlassen will.
Ein rotblonder Häuptling reicht Hannibal ein gewaltiges, silberbeschlagenes Trinkhorn.
„Nimm auch du unsere Gabe entgegen", sagt er feierlich. „Dies ist das Horn eines Wisents, eines Tieres aus unseren Wäldern. Wisente sind kleiner als deine Ungeheuer", er weist auf die Elefanten, „aber wilder als sie. Es ist noch keinem Menschen gelungen, sich auf ihren Rücken zu setzen, während deine Tiere so gehorsam sind wie Pferde, die man an der Kandare hält."
Er ahnt nicht, daß es ein Kampfelefant an Wildheit mit einer Löwin aufnimmt. Aber Hannibal läßt ihn in diesem Glauben und ergreift das Horn.
„Wenn es so ist, wie du sagst", erwidert er, „dann wird mir der Wein, den ich von nun an aus diesem Horn trinke, Kampfeskraft verleihen. Ich kämpfe gegen Rom. Diese Stadt ist auch euer Feind. Die Römer haben die Gallier, die jenseits der Alpen wohnen, unterjocht und versklavt. Viele Gallier dienen in meinem Heer. Ihr wußtet das alles nicht und wolltet mich deshalb an meinem Feldzug gegen Rom hindern. Doch nun kann ich auch euch zu meinen Freunden zählen."
Er nimmt Abschied von den Häuptlingen und befiehlt den Bläsern, das Signal zum Aufbruch zu geben. Das Heer setzt sich in Marsch. Um die in Illiberis verlorene Zeit wieder einzuholen, läßt Hannibal auch nachts marschieren. Es werden tagsüber nur zwei kurze Rasten gemacht, um die Elefanten und Packtiere zu tränken und zu füttern.
Bei einer Rast wird Hannibal gemeldet, daß die Gallier murren und sich weigern, die Säcke mit den Äxten und Picken zu tragen, die er unter alle Krieger verteilen ließ.
Das ist Ungehorsam, der strengste Bestrafung erfordert. Aber Hannibal kennt seine Söldner. Sie sind aufbrausend und rauflustig wie Kinder und müssen wie Kinder behandelt werden.
Unverzüglich reitet er in Magons Begleitung zu den Galliern hin.
Als er vom Pferd springt, umdrängen sie ihn und reden aufgeregt durcheinander.
„Ruhe!" Er hebt die Hand. „Einer soll sprechen."
Ein älterer Gallier tritt vor.
„Wir sind erschöpft!" sagt er. „Du zwingst uns, Tag und Nacht zu marschieren und lädst uns obendrein Lasten auf. Ein freier Krieger braucht nichts zu tragen als seine Waffen."
„Ja!" schreien die andern. „Wir sind keine Sklaven. Sollen die Iberer diese Säcke tragen!"
„Ich will euch eine Geschichte erzählen", erwidert Hannibal. „Es waren einmal ein Maultier und ein Esel, die sollten gleich schwere Lasten tragen. Weil das Maultier aber nur einen Teil seiner Last auf den Rücken nehmen wollte, lud der Bauer den anderen Teil zusätzlich dem Esel auf. Da brach der Esel zusammen, und dem Maultier blieb nichts anderes übrig, als die gesamte Last zu schleppen. Ich bin bereit, diese Säcke den Iberern zu geben und euch ihre Waffen auszuhändigen. Aber dann müßt ihr auch für euch und für sie kämpfen. Wollt ihr das?"
Allgemeines Gebrumm ist die Antwort. Wortlos gehen die Gallier zu den Säcken und laden sie sich auf.
In Rom
Während sich Hannibal den Pyrenäen näherte, befand sich der Konsul Publius Cornelius Scipio, der mit dem iberischen Feldzug beauftragt war, noch in Rom. Der Konsul zählte etwa fünfzig Jahre, er war also nach römischen Begriffen noch kein alter Mann.
Außergewöhnliche Umstände hielten den Konsul zurück. Im Norden Italiens hatten sich nacheinander mehrere gallische Stämme erhoben, deren Dörfer kurz zuvor von den Römern zerstört und deren Land von römischen Ansiedlern in Besitz genommen worden war. Nun unternahmen die gallischen Stämme ständig Überfälle auf die römischen Kolonisten. Sie behielten die römischen Unterhändler, die man zu ihnen sandte, als Geiseln zurück und besetzten obendrein Modena, Roms wichtigste Festung in Norditalien.
Daraufhin wurde eine römische Legion gegen die Gallier eingesetzt. Aber sie geriet in den Urwäldern, die damals Norditalien bedeckten, in einen Hinterhalt und mußte unter Zurücklassung ihrer Toten und Verwundeten fliehen.