Bewundernd betrachtete Publius die aus sechzig Schiffen bestehende Flotte, die in Ostia vor Anker lag. Sie wurde ebenfalls von seinem Vater befehligt, der schon vor ihm dort eingetroffen war.
Übrigens teilte der die Begeisterung seines Sohnes durchaus nicht.
„Diese paar Schiffe kann man doch nicht als Flotte bezeichnen!" sagte er kopfschüttelnd. „Mein Kollege Sempronius, der zweite Konsul, verfügt über einhundertsechzig Schiffe, die kleinen Wachboote nicht mitgerechnet. Als wir über die Verteilung der militärischen Aufgaben das Los warfen, lächelte ihm die Glücksgöttin Fortuna, und er gewann den afrikanischen Kriegsschauplatz. Wir dagegen werden gegen gallische und iberische Barbaren kämpfen müssen. Ich bezweifle nicht, daß der karthagische Senat Hannibal unverzüglich aus Iberien zurückrufen wird, wenn Sempronius' Flotte vor Karthago auftaucht."
Nachdem der Konsul den Meeresgöttern ein Opfer dargebracht hatte, ging er an Bord. Daß er seinen Sohn auf sein eigenes Schiff mitnahm, verübelte ihm Publius' Ausbilder, der Zenturio, nicht, denn auf See konnte er die Rekruten doch nicht exerzieren lassen, und da war es auch gleichgültig, ob sie auf einem Mannschaftsschiff oder auf dem des Feldherren fuhren.
Das Schiff fuhr nordwärts, an einem flachen Ufer entlang, auf dem Publius vereinzelte Dörfer und Städte sah. Sie hatten vor dreihundert Jahren einem mächtigen Volk, den Etruskern, gehört, die große Teile von Nord- und Mittelitalien beherrschten und der Seeräuberei nachgingen. Ihre Nachkommen hatten sich in friedliche Hirten und Ackerbauern verwandelt, die pünktlich ihre Steuern und Abgaben zahlten.
Der Vater wurde lebhaft, als die Küste einen großen Bogen nach links machte. Hier wohnten die Ligurer, ein gallischer Volksstamm, gegen den er in seiner Jugend gekämpft hatte. Publius erblickte mehrere düstere Wachtürme, ehemalige Burgen der kriegerischen Ligurer, in denen jetzt nur noch die Vögel nisteten.
„Dort hatte sich der Feind festgesetzt", berichtete der Vater. „Auch sein Getreide und sein Vieh hatte er in die Burgen geholt. Jede einzelne Burg mußten wir belagern. Die Ligurer kämpften, bis ihnen die Lebensmittelvorräte ausgingen."
Eines Morgens erblickte Publius am Horizont eine rötliche Wolkenkette. Er betrachtete sie eine Weile und sah, daß ihre merkwürdigen Umrisse unverändert blieben. Da wurde ihm klar, daß er die Schneegipfel der Alpen vor sich hatte. Sie trennten das Gebiet der Gallier, die von den Römern schon unterworfen worden waren, von den noch unabhängigen Völkerstämmen.
Der Wind schlug um. Der warme, weiche Südwestwind wurde vom kalten Nordwind abgelöst. Das Deck begann zu schwanken. Publius wurde es schwindlig. Ihn packte die Seekrankheit, die Krankheit des Meeresgottes Neptun.
Aber die Pein dauerte nicht lange. Die Schiffe fuhren auf die Küste zu. An einer Stelle sah Publius einen Einschnitt - die Einfahrt nach Marseille. Die Stadt lag an einem Bergeshang und war wie ein Amphitheater gebaut, das in einem Halbrund den Hafen umgab. Auch der Hafen erinnerte Publius an das Theater, denn er hatte die runde Form eines Orchesters, wie die Griechen den Tanzplatz des Chores auf ihren Theaterbühnen nannten. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch die an der Mole liegenden Schiffe, die von weitem wie Chorsänger aussahen.
Publius wußte, daß Marseille als einzige Stadt in diesem feindseligen Lande mit Rom verbündet war. Entkräftet durch die ständigen Gefechte mit den Galliern und wohl auch aus Angst vor den karthagischen Seeräubern, die früher das Mittelmeer unsicher machten, hatten die Mar-seiller ein Bündnis mit Rom geschlossen, das Rom zwar bisher noch keine Vorteile gebracht hatte, jetzt aber von unschätzbarem Wert war.
Die Zenturionen, die das Ausschiffen befehligten, verboten den Legionären, ihre Waffen an Land mitzunehmen, denn kein Fremdling durfte die Stadt Marseille bewaffnet betreten.
Die Marseiller standen am Kai und empfingen die Römer, indem sie jedem ein kleines Geldstück in die Hand drückten.
Publius hatte schon in Rom von dieser merkwürdigen Sitte erfahren. Er antwortete dem Marseiller, der ihm das Geldstück überreicht hatte, deshalb nach altem Brauch mit den rätselhaften Worten: „Ich werde in die Unterwelt zurückkehren."
Sein Vater, der Konsul, sprach schon mit einigen Männern in Purpurgewändern. Es waren Mitglieder des Marseiller Rates der Sechshundert. Und sie machten ihm die bestürzende Mitteilung, daß Hannibal mit seinem gesamten Heer bereits die Pyrenäen überquert hatte, sich der Rhône näherte und viele Kampfelefanten mit sich führte. Dadurch war der Plan des römischen Senats, Hannibal in Iberien zu stellen und gleichzeitig Karthago anzugreifen, vereitelt worden. Hannibal war den Römern zuvorgekommen!
Welches Ziel verfolgt er? grübelte der Konsul. Weshalb entschloß er sich, die kurz zuvor unterworfenen iberischen Gebiete zu verlassen, obgleich dort jederzeit ein Aufstand aufflammen kann?
Niemand war imstande, ihm diese Fragen zu beantworten. Aber er mußte einen schnellen Entschluß fassen. Die Karthager konnten jeden Augenblick vor Marseille auftauchen.
Er rief einen Liktor und gab ihm einen Befehl. Unmittelbar danach rief ein Hornsignal die Legionäre zum Antreten. Obgleich sie sich noch nicht ganz von der Seekrankheit erholt hatten, mußten sie sofort hinter Marseilles Stadtmauern ein befestigtes Lager errichten.
Gefährlicher Übergang
Hannibals Elefanten schreiten voran. Das Heer stößt nicht mehr auf Hindernisse. Die Geschenke, die Hannibal aus der saguntinischen Beute verteilen ließ, ebnen ihm den Weg. Nach zehn Tagesmärschen steht er am Ufer der Rhône. Die Afrikaner, die es von daheim gewöhnt sind, mit jedem Tropfen Wasser zu geizen, bestaunen den breiten, wasserreichen Strom. Ein Land wie dieses, das mit dem Wasser nicht zu sparen braucht, muß verschwendungssüchtige Götter haben!
Der Feldherr späht zum anderen Ufer hinüber. Es ist leer. Könnte er die Rhône doch sofort schwimmend überqueren! Aber in seinem ganzen großen Heer gibt es kaum tausend Krieger, die schwimmen können. Und die Elefanten? Wie soll er die Elefanten über den Fluß bringen?
Tag und Nacht dröhnen Axtschläge über der Rhone. Die Krieger fällen Bäume und zimmern Flöße. Inzwischen wird das jenseitige Ufer von den Galliern besetzt.
Hannibal muß die Gallier unbedingt vertreiben, sonst ist an einen Ubergang über den Fluß nicht zu denken. Er ruft Magon zu sich und befiehlt ihm, mit einem hauptsächlich aus Iberern bestehenden Truppenteil stromaufwärts zu gehen, die Rhone an einer geeigneten Stelle zu überqueren und in einem bestimmten Augenblick die Gallier von hinten zu überfallen.
Nachts macht sich die Abteilung auf den Weg. Die Pferde gehen im Schritt. Magon hat ortskundige Führer bei sich. Fünfundzwanzig Meilen vom karthagischen Lager entfernt wird der Fluß seicht, teilt sich in mehrere Arme und bildet kleine baumbewachsene Inseln.
Magon springt vom Pferd und geht zum Wasser hinunter. Es riecht nach Algen. Dicht vor ihm stehen große Vögel auf einem Bein im Wasser. Sie haben ein rosa Gefieder, ihr kleiner Kopf sitzt auf einem anmutig gebogenen Hals. Es sind Flamingos, die er von den heimatlichen Gewässern kennt. Von einer Insel klingt ein fremdartiger Vogelschrei. Magon lauscht. Siebenmal ruft der Vogel, dann verstummt er. Das ist ein gutes Vorzeichen, denken die Krieger, treiben beherzt ihre Pferde ins Wasser und überqueren den Fluß.
Einen Tag später erblickt Hannibal am gegenüberliegenden Ufer, links vom Feind, eine Rauchsäule. Es ist das verabredete Signal dafür, daß Magons Abteilung den befohlenen Ort erreicht hat und zum Angriff bereit ist.