Dann wandte Hannibal sich um und blickte in die entgegengesetzte Richtung. Unwillkürlich schrie er auf. Vor ihm lag ein blühendes Land, von Wasserläufen durchschnitten. In der Ferne funkelte das sonnenbeschienene Meer wie ein blankgeputzter Bronzeschild. Italien! Ihn erregte die Nähe dieses Landes, das er noch nie gesehen, sich aber so oft ausgemalt hatte. Wie anders war Italien als die vertrauten afrikanischen Tiefebenen und iberischen Berge!
„Hierher!" schrie er seinen Kriegern zu, die von der Kälte erstarrt, von der Erschöpfung wie gelähmt waren. „Seht, das ist Italien, unser Ziel, unsere Beute! Ich gebe es euch ganz - mit seinen Wäldern und Flüssen, mit seinen Städten und Dörfern!"
Und so herrlich war der Anblick dieses Landes, so greifbar nahe schien es zu liegen, daß alle am liebsten die Hände nach ihm ausgestreckt hätten, wie nach einem kunstvoll gemalten Bild, um mit den kältestarren Fingern die Leinwand und die leuchtenden Farben zu betasten.
Dann begann das Heer mit dem Abstieg. Der eisige Wind drang den Kriegern bis auf die Knochen. Die abschüssige Straße war mit Schneeresten bedeckt, in denen sie versanken. Die schweren Lasten rutschten den Pferden auf den Hals. Die Straße führte in zahllosen Windungen über kahle, vereiste Felsen. Wer ausglitt, stürzte in den Abgrund.
Die Reiter sprangen aus dem Sattel, traten hinter ihre Pferde und hielten sie beim Weitergehen am Schwanz fest. Die Gebirgler, die dem Heer seit einigen Tagen ständig folgten, waren plötzlich verschwunden. Offenbar wollten sie die Vernichtung der Eindringlinge der Natur überlassen. Oder war diese Gegend sogar für die Einheimischen unpassierbar, nicht nur für ein Heer mit Reiterei und Elefanten?
Plötzlich blies der Hornist Alarm. Sein Signal wurde von wildem Kampfgeschrei übertönt. Die Gebirgler hatten das Heer auf Geheimpfaden umgangen und griffen es jetzt von vorn an.
Das ist das Ende! dachte Hannibal. Nun werden die verschreckten Tiere in den Abgrund stürzen und die Menschen mit sich reißen, denn ich kann meine übrigen Krieger nicht dazu bringen, daß sie der Vorausabteilung zu Hilfe kommen. Die Angst vor dem glatten vereisten Pfad ist stärker als mein Befehl, stärker als die Stimme der Vernunft.
Ja, es ist aus.
Aber seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Es geschah etwas völlig Unerwartetes. Die Angreifer blieben wie versteinert stehen, wandten sich zur Flucht und jagten unter Zurücklassung ihrer Waffen davon, als wäre ihnen eine Schar von bösen Geistern auf den Fersen.
Verständnislos blickten die Krieger der karthagischen Vorausabteilung zurück. Was hatte die Gebirgler so erschreckt? Als sie den Grund erkannten, lachten sie schallend. Sie vergaßen Hunger, Kälte und Erschöpfung und bogen sich vor Vergnügen. Die Felsenwände warfen ihr Gelächter als unheimliches Echo zurück. Auch sie schienen zu lachen über diese Menschen, die zum erstenmal einen Elefanten gesehen hatten.
Die Elefanten! Hannibal empfand tiefe Dankbarkeit, ja Zärtlichkeit für die gewaltigen Tiere. Selbst hier in der Schneewüste retteten sie ihn vor dem Untergang. Die Elefanten - das war sein heißes, dunkles Afrika, das sich zum Kampf gegen das kalte, hochmütige Europa erhoben hatte. Die Elefanten - das war der Traum vom Sieg über Rom, den schon sein Vater geträumt hatte.
Nach drei Tagen erreichte das Heer ein grünes Tal, das nach Süden hin weiter wurde. Klare Bäche plätscherten von den Bergen herab. Vor dem Pfahlzaun, der ein kleines Dorf umgab, standen graubärtige Greise in weißen Gewändern. Sie blickten den fremdartigen Ankömmlingen. auf ihre Stäbe gestützt, verwundert entgegen. Den Häusern dieses Tals war die wilde Feindseligkeit der Gebirgler fremd. Zusammen mit der Natur und dem Klima hatten sich offenbar auch die Menschen gewandelt und waren sanfter, gastfreundlicher geworden.
Rast im grünen Tal
Wie Recken mit blendend weißen Helmen, schwarzen Panzern und grünen Umhängen standen die Berge majestätisch im Halbkreis da. Fünfzehn Tage lang war das Heer über ihre Hänge herabgestiegen. Sie hatten Steine und Schneelawinen von ihren Schultern geschüttelt, sie hatten Hindernisse aufgetürmt, Abgründe aufgerissen, den Kriegern die Wangen erfroren und ihnen mit dem grauenhaften Gefunkel ihrer Eisfelder die Augen geblendet. Wie schwach und hilflos waren die Menschen im Kampf gegen diese unerbittlichen Giganten gewesen! Dennoch hatte ihre Ausdauer gesiegt. Die Berge hatten ihnen Platz gemacht und sie widerstrebend durchgelassen. Jetzt schienen sie mit herablassendem Lächeln zu fragen: Na, ihr Ameisen, sind noch viel von euch übrig?
Hörnerschall riß Hannibal aus seinen Gedanken. Das Heer war angetreten. Heute hatte er zum erstenmal seit vielen Monaten einen Appell angesetzt, einen Namensaufruf der noch Lebenden.
An der linken Flanke standen die Iberer, in die Fetzen ihrer rotwollenen Umhänge gehüllt. Das Haar war ihnen unterwegs so lang gewachsen, daß es wie eine Löwenmähne auf ihre Schultern hing. Sie grüßten den Feldherrn, indem sie die mit Sehnen durchflochtenen kleinen Schilde erhoben.
Daneben die Gallier, in knöchellange Hosen und leichte Überhemden gekleidet. Viele besaßen keinen Schild. Es waren nur noch etwa tausend Mann, obgleich sechstausend Gallier die Pyrenäen überquert hatten. Wo waren die übrigen geblieben? Gestorben oder geflüchtet? Bei den Gebirglern untergetaucht oder in ihre Heimat zurückgekehrt? Was veranlaßte die im Heer Verbliebenen, hier zu stehen? Beutehunger oder Pflichtbewußtsein?
„Jetzt werden wir echten Wein in Hülle und Fülle trinken!" rief Hannibal ihnen aufmunternd zu, denn er kannte ihre Leidenschaft für dieses Getränk.
Die Afrikaner - was für ein trauriger Anblick! Meine Afrikaner! pflegte er sie in Gedanken oder im engsten Freundeskreis zu nennen, weil er sich seiner übergroßen Liebe zu diesen tapferen, treuen Menschen schämte. Aber waren die Männer vor ihm seine Afrikaner? In Lumpen gehüllt, die Füße umwickelt mit Fetzen, durch die das Blut sickerte, Gesichter und Hände mit blauen und schwarzen Flecken bedeckt, als wären sie gebrandmarkte Sklaven. Am liebsten hätte Hannibal die geballten Fäuste gegen den Himmel geschüttelt und den Göttern zugeschrien: Was habt ihr mit meinen Afrikanern gemacht? Gebt mir meine Afrikaner wieder! - Aber er verbarg die geballten Fäuste auf dem Rücken und sagte laut: „Einstmals, es ist schon lange her, kämpften wir Afrikaner gegen die griechische Stadt Kyrene, die nördlich von Karthago liegt, um einen strittigen Landstreifen zwischen unseren Gebieten. Als die Kämpfe unentschieden blieben, ließen sich zwei unserer Brüder lebendig in jenem Landstreifen begraben, auf daß er für immer zu unserer afrikanischen Heimat gehöre." Er musterte die gelichteten Reihen der Afrikaner. „Ihr habt viele Brüder verloren", fuhr er fort. „Sie starben auf dieser fremden Erde, auf daß sie für immer zu unserer afrikanischen Heimat gehöre."
Die balearischen Schleuderer. Hannibal machte einen Witz in ihrer Sprache, und sie lachten, daß die schwarzen Schnüre auf ihren mageren Leibern hüpften.
„Was hat er gesagt?" wurde aus anderen Abteilungen gerufen.
„Das war in unserer Sprache gesprochen und galt nur uns!" war die stolze Antwort.
Die Numidier. Sechstausend waren noch übrig. Sie hatten die geringsten Verluste erlitten. Es war sinnvoll gewesen, sie so zu hüten. Zwar hatten viele ihre Pferde eingebüßt, aber in diesem Lande würde man genügend neue Pferde für sie finden.
Die Kampfelefanten. Sie wiegten anklagend die Köpfe, als wollten sie sagen: Was hast du mit uns gemacht, Hannibal? Wir sind nur noch siebzehn. Und wir können uns kaum auf den Beinen halten.