„Richad", fragte Hannibal, „werden sie es überleben?"
Der Inder verneigte sich tief. „Ja, vorausgesetzt, daß du ihnen mindestens zwei Wochen Ruhe gönnst. Hier ist das Gras hoch und saftig, so daß sie sich satt fressen könnten!"
Zwei Wochen Ruhe brauchen die Elefanten ebenso wie die Menschen! dachte Hannibal. Zwei Wochen, dann werde ich wieder ein wirkliches Heer besitzen. Doch was würde geschehen, wenn mir die Römer diese zwei Wochen Ruhe streitig machten? Dann wäre alles aus. Dann wären alle Mühen und Opfer umsonst.
Hannibal verkürzte sich die Ruhetage mit einem Spiel, das Richad ihm einst in Iberien beigebracht hatte. Der Inder nannte es Tschaturanga, was in der Übersetzung „Vier Waffengattungen" hieß, und es war ein Vorgänger des Schachspiels. Auf einem Holzbrett, das in Quadrate aufgeteilt war wie ein römisches Feldlager, wurden schwarze und weiße Elfenbeinfiguren einander gegenübergestellt - Fußsoldaten, Reiter, Kriegselefanten und quadratische Wandeltürme. Die beiden Heere wurden von je einem König und einer Königin befehligt. Tschaturanga war ein ernstes, kluges Spiel, und Hannibal spielte es so gut, daß er Richad, seinen Gegner, meistens besiegte.
„Ich kann nicht verstehen", sagte er zu Magon, „warum dir das Tschaturanga nicht gefällt! Was hast du vom Würfelspiel, dem du deine Freizeit widmest? Was lehrt es dich? Daß du dem Zufall ausgeliefert bist, der blind ist wie ein altes Roß in den Silberbergwerken?"
„Ich finde Tschaturanga viel zu schwierig und langweilig", widersprach Magon. „Den ganzen Tag über einem Holzbrett zu brüten, als hänge von dem nächsten Zug das Schicksal des Heeres ab, ist nicht nach meinem Geschmack."
Hannibal machte beim Spiel oft ein so ernstes Gesicht, als hätte er kein Brett vor sich, sondern ein richtiges Schlachtfeld. Wer das Geheimnis von Hannibals Siegen ergründen wollte, brauchte ihn nur bei diesem Spiel zu beobachten. Er war tollkühn und gleichzeitig vorausschauend. Häufig opferte er eine Figur, um für die anderen eine bessere Position zu gewinnen, und immer machte er sich den kleinsten Fehler seines Gegners zunutze.
„Nein", sagte er zu Magon, „Tschaturanga erinnert nur entfernt an Feldzüge und Schlachten. Hier" - er zeigte auf das Brett - „bin ich sicher, daß meine Krieger ihre Waffen nicht gegen mich kehren und daß sie meine Schlachtpläne gehorsam ausführen. Im Leben ist alles anders."
Zweikampf
Hannibal machte sich Sorgen. Die Kundschafter, die er ausgesandt hatte, waren mit der Nachricht zurückgekehrt, daß der römische Konsul Publius Scipio auf dem Seeweg aus Marseille mit einer kleinen Truppeneinheit im Hafen von Pisa gelandet wäre. Dort hätte er seine Leute mit den Legionen vereinigt, die an der Nordgrenze von Italien stationiert waren, und wäre mit dem gesamten Heer zur Poebene marschiert.
Zur Zeit waren die beiden Heere nur noch drei Tagesmärsche von einander entfernt. Meine Truppen haben sich von dem anstrengenden Alpenübergang noch nicht erholt, sagte sich Hannibal. Und wenn ich gleich die erste Schlacht verlöre, würden die Gallier Reißaus nehmen wie Hasen aus einem zerlöcherten Korb.
Er beschloß, einen zweiten Appell abzuhalten. Er mußte den Kriegern klarmachen, daß sie in der kommenden Schlacht nicht nur für die Handvoll Silber kämpfen würden, die sie an jedem Neumond erhielten, sondern um ihre eigene Freiheit, um ihr Leben. Sie mußten erkennen, daß es für sie keine Rückkehr in die Heimat gab und jede Gefangennahme gleichbedeutend war mit Sklaverei, Ketten und Leiden. Hannibal wußte, daß die Söldner lange Reden verabscheuten. Am besten verstanden sie die Sprache der Tat. Und er faßte einen Entschluß.
„Laß das Heer antreten und stell die Gefangenen, die wir neulich bei Turin gemacht haben, davor auf", sagte er zu Magon. Der Bruder gehorchte.
„Dukarion", befahl Hannibal seinem Dolmetscher, nachdem das Heer angetreten war, „sage den Gefangenen: Wer seine Freiheit und das hier erhalten will" - er zeigte auf Pferde und Waffen -, „soll vortreten und in Gegenwart des Heeres mit einem Stammesgenossen einen Zweikampf ausfechten."
Als Dukarion übersetzt hatte, traten fast alle Gefangenen vor.
„Das sind zuviel", wehrte Hannibal ab. „Zwei genügen. Laß das Los entscheiden."
Das Los fiel auf zwei junge Männer, die vor Freude strahlten. Die übrigen Gefangenen senkten finster den Kopf.
Auf einen Befehl Hannibals schlugen die Schmiede den beiden die Fesseln von Armen und Beinen. Dann wurden ihnen Schwerter gegeben.
Sie wußten, daß sie in Kürze frei sein würden. Der erste würde heimkehren und seine Lieben in die Arme schließen können, den zweiten würde der Tod von jeder Qual erlösen.
Der Kampf begann. Die Gallier umkreisten sich mit gezückten Schwertern. Ihre Gesichter brannten vor Kampfeswut, als wären sie nicht Stammesbrüder, sondern erbitterte Feinde. Ein Schwerthieb folgte dem anderen, aber am Anfang gelang es beiden Kämpfern, ihnen auszuweichen. Die Erregung der zuschauenden Krieger wuchs. Sie quittierten die Hiebe mit zustimmenden oder empörten Rufen, traten aus dem Glied und schlossen um die Kämpfer einen Kreis. Plötzlich sprang der eine vor, versetzte seinem Gegner einen fürchterlichen Stoß, wurde jedoch gleichzeitig in die Schulter getroffen. Doch das hinderte ihn nicht, sein Schwert auf den Kopf des anderen niedersausen zu lassen. Ein Schrei brach aus tausend Kehlen.
Der Getroffene hielt sich noch ein paar Augenblicke auf den Beinen.
Das Blut strömte ihm über das Gesicht. Dann stürzte er zu Boden.
Der Sieger blieb mit gesenktem Schwert vor ihm stehen, wortlos, entsetzt über das, was er getan hatte. Dann blickte er haßerfüllt zu Hannibal hinüber und ging langsam zu seinen Trophäen.
Hannibal hob die Hand. Es wurde still.
„Auch ihr habt diese Wahl!" rief er. „Sklaverei!" Er zeigte auf die Gruppe der Gefangenen. „Tod!" Er wies auf den blutigen Leib des sterbenden Galliers. „Oder Sieg" Und er streckte beide Hände nach dem Sieger aus.
Dieser hatte inzwischen den schimmernden Helm aufgesetzt, die Rüstung angelegt und sich aufs Pferd geschwungen.
Das war die kürzeste Rede, die Hannibal jemals hielt. Und die überzeugendste. Sie machte den Kriegern klar, daß sie in der nächsten Schlacht um ihr Leben kämpfen mußten und jeder Versuch, durch die Flucht ihre Heimat zu erreichen, sinnlos war, weil hinter ihnen todbringende Berge und feindselige Stämme waren.
Das erste Gefecht mit den Römern
Am Ticino, einem Nebenfluß des Po, ließ Konsul Publius Scipio ein befestigtes Lager bauen und daneben eine Brücke über den Fluß schlagen. Anschließend unternahm er mit einer kleinen Einheit einen Erkundungsritt. Die Kavallerie ging in einer gekrümmten Linie vor - die Mitte vorn, die beiden äußeren Enden weiter zurück. Dumpf hallten die Hufe über den steinigen Boden.
Die Kundschafter hatten dem Konsul gemeldet, daß Hannibals Heer die Alpen überquert hatte und noch zwei Tagesmärsche vom Ticino entfernt war. Er staunte über den Wagemut dieses Mannes. Wer hätte annehmen können, daß Hannibal mit seiner Reiterei und seinen Elefanten die Alpen überqueren würde? Dadurch hatte er alle Pläne des Konsuls über den Haufen geworfen.
„Mir blieb nichts anderes übrig", erklärte der Konsul seinem Sohn, der neben ihm ritt, „als mein Heer zu teilen. Die eine Hälfte habe ich nach Iberien geschickt - sie wird von meinem Bruder Gnaeus geleitet -, und die andere Hälfte habe ich auf dem schnellsten Wege nach Italien gebracht. Ich bin fest überzeugt, daß der Alpenübergang den Karthagern viel Kraft gekostet hat. Ich muß sie schlagen, bevor sie sich erholt und ihre gelichteten Reihen wieder aufgefüllt haben."