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Vor dem Tempel des höchsten karthagischen Gottes, der Baal Ammon hieß, gab Hamilkar dem Sklaven ein Zeichen, die Pferde anzuhalten. Vater und Sohn verließen den Wagen und stiegen über Granitstufen, die von vielen tausend Füßen ausgetreten worden waren, zum Heiligtum hinauf.

Schwere schwarze Säulen stützten eine kunstvoll bemalte Decke. Das Licht der an Säulen und Wänden angebrachten Öllampen fiel auf die Ledersäcke und Metallgefäße, in denen die Opfergaben der Gläubigen verwahrt wurden. Ein wallender Purpurvorhang verbarg das Allerheiligste. Als er zur Seite glitt, erblickte Hannibal einen Altar und dahinter die Gestalt eines nackten bronzenen Jünglings. War er es, dem an Feiertagen Kinder geopfert wurden?

Zaghaft folgte Hannibal dem Vater zum Altar. Er fror. Die kalten Steinfliesen und ein nur halbbewußtes Grauen ließen ihm das Blut in den Adern erstarren.

„Lege die Hand hierher, mein Sohn!" Hamilkar zeigte auf den Rand des Altars.

Hannibal gehorchte.

„Und nun sprich mir Wort für Wort nach: Mögen mich die Götter vernichten ..."

„Mögen mich die Götter vernichten..."

„wenn ich jemals ein Freund der Römer werde und die Demütigung meines Vaters..."

„... die Demütigung meines Vaters..."

„und die Erniedrigung meines Vaterlandes..."

„... die Erniedrigung meines Vaterlandes..."

„nicht an ihnen räche."

„nicht an ihnen räche."

Hannibal erlebte viele Wechselfälle des Schicksals. Es trug ihn auf den Gipfel des Ruhms, trieb ihn von Land zu Land, von Stadt zu Stadt. Doch überall und jederzeit sah er vor sich den von flackernden Öllampen erleuchteten Tempel, den Purpurvorhang und den Altar, und immer klang ihm die Stimme des Vaters wie das Angriffssignal einer Trompete in den Ohren. Er vergaß die Worte des Schwurs, aber er hielt ihm sein Leben lang die Treue. 

Im fremden Land

Einen ganzen Monat brauchte das Heer für den Weg nach Iberien. Wüsten, Grassteppen, neue Wüsten. Jeder Tagesmarsch entfernte Hannibal nicht nur von Karthago, sondern auch von Rom. Der Junge wußte, daß Rom nördlich von seiner Vaterstadt lag, jenseits des Meeres, doch das Heer zog auf dem Landwege gen Westen.

Der Vater ließ mich Rom ewige Feindschaft schwören, aber anschließend reisen wir ans andere Ende der Welt, wie merkwürdig, dachte Hannibal. Sein einziger Trost war der Gedanke an die bevorstehenden Kämpfe mit den iberischen Riesen und Drachen.

Aber auch in dieser Beziehung wurde er enttäuscht.

In Iberien lebten überhaupt keine Drachen. Anscheinend gab es dort nicht einmal Löwen, deren Gebrüll er in Afrika fast in jeder Nacht gehört hatte. Nachdem das Heer die schmale Meerenge von Gibraltar zwischen Afrika und Iberien hinter sich gelassen hatte, herrschte nachts nur noch tiefe Stille. Selbst die Felsen schliefen, vom Mondlicht erhellt, und das Meer sang ihnen mit dem gleichmäßigen Rauschen seiner Brandung ein Wiegenlied.

In Iberien gab es auch keine wilden Elefanten, die dem Heer in Afrika scharenweise begegnet waren. Bei diesem Anblick hatte Hannibal einmal einen iberischen Söldner gefragt, welches das gefährlichste Tier in seinem Vaterland sei.

„Das Kaninchen!" war die Antwort gewesen.

Das hatte der Söldner durchaus ernst gemeint, wie Hannibal später feststellte. Die kleinen Tiere, die so putzig mit dem langen Schnurrbart wackelten, vernichteten Saaten, Obstbäume und Beerensträucher; sie unterwühlten sogar Städte.

In Iberien gab es auch keine Riesen, mit denen der Junge gar zu gern gekämpft hätte. Hier wohnten nur Hirten und Ackerbauern. Sie trugen Umhänge aus grober Wolle und Filzhüte mit hochgeschlagenen Rändern und lebten in Stämmen zusammen. Es gab dermaßen viele Stämme, daß sich kein Mensch ihre seltsamen Namen einprägen konnte: Oretaner, Lusitaner, Kantabrer und viele andere mehr. Deshalb wurden die Bewohner dieses Landes von Ausländern samt und sonders als Iberer bezeichnet.

Zu Hannibal waren die Iberer sehr freundlich. Als er einmal heimlich das Lager verlassen und sich im Gebirge verirrt hatte, traf er einen großen Iberer, einen Hirten mit langem Haar. Der schnalzte lustig mit der Zunge, um den erschrockenen Jungen zu beruhigen, nahm ihn dann auf den Rücken und brachte ihn ins karthagische Lager zurück. Dafür schenkte Hamilkar ihm eine Handvoll Münzen, für die er sich eine ganze Schafherde hätte kaufen können. Doch statt sich zu bedanken, spuckte er aus und warf dem karthagischen Feldherrn das Geld vor die Füße. Hamilkar sagte nichts dazu, er runzelte nur die Stirn. Doch nachdem der Hirt fort war, schalt er ihn als undankbar.

„Die Iberer sind eben Barbaren!" setzte er Hannibal auseinander. „Sie haben kein richtiges Heer und kämpfen nur in kleinen Trupps. Hartnäckig weigern sie sich, unsere Herrschaft anzuerkennen und uns Tribut zu zahlen. Sie verstecken sich hinterlistig in den Bergen und schleudern aus unerreichbaren Höhen Felsblöcke auf unsere nichtsahnenden Krieger. Wiederholt ist es auch schon geschehen, daß sich ein Iberer nachts heimlich in unser Lager geschlichen und den schlafenden Feldherrn getötet hat. Anschließend macht er sich dann unbemerkt aus dem Staube. Und wenn es unseren Wachen doch einmal gelingt, einen Iberer zu fangen, dann kann man ihm selbst durch grausame Foltern nicht den Namen seiner Helfershelfer entreißen. Wenn den Iberern der Leib mit Flammen versengt oder von Eisenhaken zerrissen wird, lächeln sie, als fühlten sie keinen Schmerz. Und wenn man sie ans Kreuz nagelt, singen sie Siegeslieder. Es sind eben Wilde! Doch ihre Pferde - die sind des höchsten Lobes würdig. Sie sind kleiner als unsere edlen numidischen Rennpferde. An Eleganz und Schnelligkeit des Laufes können sie es nicht mit ihnen aufnehmen, aber sie sind viel kräftiger und ausdauernder. Mit schweren Lasten beladen, legen sie lange Tagesmärsche zurück. Sie fürchten sich nicht vor brausenden Bergflüssen, schmalen Felspfaden und gähnenden Abgründen. Während der Schlacht springen die iberischen Reiter häufig aus dem Sattel und lassen ihre Pferde unangekoppelt laufen oder binden sie an einen Pflock, den sie flüchtig in die Erde gebohrt haben. Dann bleiben die Pferde gelassen stehen, ohne sich vom Schlachtenlärm stören zu lassen. Häufig nimmt der Reiter noch einen Fußsoldaten mit aufs Pferd, auch das macht den Tieren nichts aus." Hamilkar sandte die iberischen Pferde zu Tausenden nach Karthago. Zum Pflügen, zum Lastentragen, eben zu allem, was Kraft und Ausdauer erfordert, wurden die Knirpse, wie die Karthager sie nannten, verwendet. 

Der neue Lehrer

„Königssöhne erben die Macht von ihren Vätern", sagte Hamilkar zu seinem Sohn. „Doch mein Amt wird eines Tages derjenige übernehmen, der ihm am würdigsten ist. Das könnte zum Beispiel dein Bruder Magon oder auch dein Reitlehrer Magarbal sein."

Hannibal kniff beleidigt die Lippen zusammen. „Nein, Magon soll nicht den Oberbefehl über das Heer erhalten. Er ist jünger als ich und hat noch keinen Unterricht im Reiten und im Bogenschießen. Dann wäre es besser, daß Magarbal dich ersetzt."

„Die jüngeren Brüder zu übertreffen ist keine Kunst. Du mußt alle überflügeln. Du mußt lernen, besser zu reiten und besser mit Schwert und Wurfspieß umzugehen als jeder andere. Doch das genügt noch nicht. Du mußt auch am meisten wissen."

Eines Tages brachte ihm der Vater einen kleinen Mann, der kaum mit ihm Schritt halten konnte. Der Mann hatte einen Schädel, kahl wie ein Straußenei, und abstehende Ohren. An seinem dünnen Hals baumelte ein flacher Gegenstand an einer schwarzen Schnur.

„So siehst du also aus, Hannibal!" rief der Unbekannte und musterte interessiert den Jungen, der sich auf seinen Wurfspieß stützte.