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„Zeig uns deine Kunst!" befahl Hamilkar.

Hannibal holte aus und traf mit seinem Spieß den zwanzig Schritt entfernten Holzpfahl.

„Tüchtig!" lobte Hamilkar. „Und nun lege die Waffe hin und komm näher. Mach dich mit deinem neuen Lehrer bekannt. Er heißt Sosylos."

„Ein neuer Lehrer?" fragte Hannibal erstaunt. „Worin soll er mich unterrichten? Ich habe schon einen Fechtlehrer, einen Reitlehrer und einen Lehrer für das Bogenschießen. Ach, ich weiß. Du bist ein Schleuderer." Hannibal tippte auf die schwarze Schnur, die Sosylos um den Hals trug.

Hamilkar und Sosylos lachten.

„Mein Sohn", sagte Hamilkar entschuldigend, „ist unter Kriegern aufgewachsen; er unterscheidet die Menschen nach ihrer Bewaffnung und hält dein Schreibgerät für eine Wurfschleuder."

Er wandte sich seinem Sohn zu. Das Lachen war aus seinem Gesicht gewichen. „Du irrst, Hannibal, Sosylos ist kein Schleuderer. Er wird dir die griechische Sprache beibringen."

„Die Griechen sind unsere Feinde, ich brauche ihre Sprache nicht!" brummte der Junge mit gesenktem Kopf.

„Wer hat dir das gesagt?" forschte Hamilkar unmutig. 

„Du selbst. Erinnere dich, du erzähltest mir von den Kriegen, die unsere Vaterstadt mit den Griechen führte, und von dem in Sizilien lebenden Griechen Agathokles, der Karthago fast erobert hätte."

„Aber das liegt doch schon hundert Jahre zurück!" rief Hamilkar. „Und jetzt gehören die sizilianischen Städte schon lange zu Rom. Auch das schöne Tarent, das einst gegen die Römer kämpfte, stöhnt unter dem Joch Roms. In dieser Stadt lebte jahrelang dein neuer Lehrer, bis er von den Römern vertrieben wurde."

Hannibal betrachtete den Griechen, der demnach ebenso ein Feind der Römer war wie der Vater, mit neuen Augen. 

„Ich kann dir sagen", fuhr Hamilkar fort, „daß die Griechen die Römer ebenso hassen wie wir. Doch selbst wenn sie unsere Feinde wären, müßtest du ihre Sprache lernen. Wer die Sprache des Feindes versteht, schlägt ihm eine Waffe aus der Hand." 

„Ich werde dich in meiner Muttersprache unterrichten, Knabe", sagte Sosylos. „Du wirst Homer und den großen Aristoteles kennenlernen und..."

„Was haben sie erobert?" fiel Hannibal ihm ins Wort.

Sosylos lächelte.

„Homer hat mit seinen wohllautenden Gedichten die Welt erobert", sagte er dann. „Und Aristoteles war ein Gelehrter, der sogar Alexander von Makedonien zu seinen Schülern zählte."

„Von Alexander habe ich schon gehört. Er eroberte Indien, wo die Elefanten leben."

„Alexander vollbrachte noch viele andere staunenswerte Heldentaten. Er war ein großer Feldherr."

„Gut, Sosylos, ich werde deine Sprache erlernen", willigte Hannibal ein. „Aber du mußt mich auch alles lehren, was Aristoteles dem Alexander beibrachte. Ich will auch ein großer Feldherr werden."

„Es wird genügen, wenn du deinem Vater nacheiferst und wie er..."

„Ihr werdet sicherlich gut miteinander auskommen", unterbrach ihn Hamilkar, der Schmeicheleien haßte.

Sosylos kannte unzählige unterhaltsame Geschichten von kriegerischen Seefahrern und ihren Abenteuern in fremden Ländern. Hannibal wunderte sich, daß sie alle in Sosylos' Kopf Platz fanden. Aber der neue Lehrer hatte die merkwürdige Angewohnheit, seine Erzählung an der spannendsten Stelle zu unterbrechen. Und es war leichter, den finsteren Magarbal zu überreden, die tägliche Reitstunde abzusetzen, als den gutmütigen Griechen zu veranlassen, seine Geschichte zu beenden.

„Wie ging es weiter? Hat der Zyklop den Helden Odysseus aufgefressen?"

„Das weiß ich nicht", erwiderte Sosylos ungerührt. „Da hast du die Schriftrolle. Lies sie selbst." 

„Ich werde sie lesen, ganz bestimmt, aber sag mir doch, ob Odysseus gerettet wurde!" flehte der Junge.

„Ich weiß nicht mehr, wie die Sache weiterging", antwortete Sosylos und entrollte gemächlich die Schriftrolle. „Setz dich neben mich, wir wollen gemeinsam lesen."

Und sie lasen Homers Gedichte. Wer Sosylos betrachtete, konnte den Eindruck haben, daß er sämtliche Abenteuer des sagenhaften Helden Odysseus am eigenen Leibe erlebte - die entsetzlichen Stürme, die Kämpfe mit den Ungeheuern und die Freude der Heimkehr. Als sie an die Stelle des Heldengedichts kamen, wo Odysseus in der Gestalt eines elenden Bettlers auf seine heimatliche Insel Ithaka zurückgekehrt ist und von der alten treuen Dienerin Eurykleia an einer Narbe am Bein erkannt wird, brach Sosvlos vor Rührung in Tränen aus.

Hannibal teilte diesen Gefühlsüberschwang nicht. Wegen einer Dienerin zu weinen! Für Hannibal waren Homers Verse nur interessante Geschichten, und nachdem Odysseus in sein Vaterland zurückgekehrt war, hörte sein Schicksal auf, den Knaben zu interessieren. Allerdings, Odysseus war listenreich, zäh und ließ sich von keinem Hindernis aufhalten, aber warum verließ er all die reichen Länder und kehrte in das ärmliche Ithaka zurück?

„Jetzt zu Alexander!" bat er immer dringlicher.

Doch Sosylos ließ sich Zeit. Nachdem sie Homers „Odyssee" beendet hatten, gingen sie zu Xenophons „Anabasis" über. Das waren nun keine erdachten Abenteuer, sondern Berichte von Ereignissen, die sich wirklich zugetragen hatten - von den Fahrten der Griechen durch die Steppen und Gebirge Asiens.

Endlich kam Sosylos mit einer neuen Pergamentrolle zu Hannibal. „Hier", sagte er und löste die Lederschnur, mit der die Rolle umwunden war, „ist ein Bericht von Alexanders Eroberungszügen, aufgezeichnet von seinem Feldherrn Ptolemaios Lagou, der späterhin König von Ägypten wurde. Ich hätte diese Schriftrolle gern gemeinsam mit dir gelesen, doch dein Vater schickt mich nach Karthago, um deine Brüder zu holen." So mußte Hannibal allein, ohne die Hilfe des Lehrers, Alexander auf seinem Feldzug in den Osten folgen. Das fiel ihm zuweilen ebenso schwer wie dem ruhmreichen Feldherrn selbst. Das Dickicht der fremden Sprache war fürchterlicher als der Dschungel Indiens und die heiße Wüste von Oedrosia, die Alexander auf seinem Rückmarsch von Indien nach Babylon durchquerte, und manche unbekannten griechischen Wörter bissen Hannibal oft wie Schlangen und stachen ihn wie Skorpione. Die unregelmäßigen Verben türmten sich wie Gebirge vor ihm auf. Oft rang er nach Atem wie in zu dünner Luft. Aber er wollte nicht aufgeben, denn Alexander hatte auch durchgehalten. Und eines Tages hatte Hannibal die dicke Rolle durchgelesen.

Alexanders Energie und Kühnheit gefielen ihm außerordentlich. Dieser Mann kannte kein Heimweh, im Gegensatz zu Odysseus. Er gab sein Vaterland und dessen Gebräuche und Götter auf. In Ägypten betete er zu den ägyptischen Göttern, in Babylon zu den babylonischen. Er hatte die Absicht, ein Weltreich zu schaffen, aber seine Kampfgefährten und Freunde begriffen die Größe seines Zieles nicht und hielten die Übernahme fremder Bräuche für Verrat. Und obwohl Ptolemaios die geheimnisvollen Umstände von Alexanders Tod nur andeutete, zweifelte Hannibal nicht daran, daß der große Feldherr vergiftet worden war.

Sosylos brachte Hannibals Brüder wohlbehalten nach Iberien, so daß Hamilkars Familie jetzt beisammen war. Hamilkar ließ seinen gesamten afrikanischen Besitz verkaufen bis auf sein Landgut, das als Festung ausgebaut war. Er hatte ähnliche Pläne wie Alexander und wollte seine Söhne ihrem Vaterland entfremden.

Jetzt unterhielt er sich häufig mit ihnen und wohnte auch ihren Unterrichtsstunden bei.

„Lernt, junge Löwen!" sagte er. „Alle Menschen lernen von ihren Freunden oder von ihren Feinden, aus ihren eigenen oder aus fremden Fehlern. Nicht wahr, Sosylos?"

Der Grieche nickte. 

„Unsere Väter", fuhr Hamilkar fort, „vollbrachten große Taten, aber sie machten auch Fehler. Sie ließen ihre Söhne ausschließlich innerhalb der eigenen vier Wände unterrichten. Zwar brachten sie ihnen alles bei, was ein Großgrundbesitzer, ein Kaufmann und Schiffskapitän wissen muß, aber von der körperlichen Arbeit hielten sie sie fern. Jede Anstrengung wurde ihnen von den Sklaven abgenommen. Auch später, wenn sie ihren Heeresdienst ableisteten, führten sie ein anderes Leben als die einfachen Krieger. Sie ließen sich von ihren Sklaven den Schild tragen, bei der Rast die Füße waschen und den Schweiß von der Stirn wischen. Das ist einer der Gründe, daß wir so viele Niederlagen erlitten und daß die Römer uns besiegen konnten. Ich hörte, daß die römischen Feldherren bei Disziplinverletzungen nicht einmal vor der Hinrichtung ihrer eigenen Söhne zurückschreckten. So würde es auch euch ergehen. Habt ihr das begriffen?"