„Ein Flüchtling?" fragte er, denn die Karthager kreuzigten widerspenstige oder entflohene Sklaven.
Der junge Numidier schüttelte verständnislos den Kopf. Als sie sich dem Kreuz näherten, stellte sich heraus, daß kein Mensch daran hing, sondern ein gewaltiger Löwe mit zottiger Mähne, die Hannibal von weitem für einen Sack gehalten hatte, den man einem Gekreuzigten über den Kopf stülpte. Das Tier war von beherzten numidischen Hirten erlegt und ans Kreuz genagelt worden, um andere Raubtiere von den Herden zu verscheuchen. Etwas ähnliches taten in Karthagos Umgebung die Ackerbauern, wenn sie einen Raben an die Spitze einer Stange banden und diese auf freiem Feld aufpflanzten. Masinissa verstand Hannibal wohl auch deshalb nicht, weil die Numidier entweder keine Sklaven besaßen oder sie nicht so grausam behandelten wie die Karthager. Je näher Hannibal das Leben der Numidier kennenlernte, um so klarer wurde ihm, welch einen schwierigen Auftrag ihm der Vater gegeben hatte. Es würde kaum gelingen, Masinissa, der die freie Ungebundenheit dieses weiten Landes so sehr liebte, zu einem Freund Karthagos zu machen! Das Menschengewimmel der Stadt, ihre Habgier und sinnlose Grausamkeit würden ihn erschrecken. Hier war Masinissa ein großer Herr und Gastgeber. In Karthago dagegen würde er der arme Gast sein, den man gnädig zur Festtafel zuläßt. Für die grenzenlose Weite dieses Landes mit seinen über den Hügeln schwebenden Adlern und dem bitteren Wermutduft würde er in Karthago keinen gleichwertigen Ersatz finden.
Am dritten Tag des Ritts sah Hannibal in der Ferne die Wasserfläche eines Sees aufblinken. An seinen Ufern wuchs das Röhricht fast so hoch wie ein Jungwald. Die Enten, die darin nisteten, wurden von den Reitern aufgescheucht und kreisten als Wolke über dem See.
„Wo ist denn Richad mit seinen Elefanten? Wo ist das kleine Indien, von dem mein Vater sprach?" forschte Hannibal.
„Dort hinter den Hügeln", erwiderte der junge Numidier. „Siehst du nicht die Spitzen der Pfähle?"
Hannibal blickte in die Richtung, wohin Masinissa zeigte, konnte aber nichts erkennen.
Mit Recht sagt man, daß die Numidier Adleraugen haben! dachte er.
Richads Reich
Wie durch Zauberkraft war mitten in der Grassteppe eine richtige Stadt entstanden - mit Pferchen, endlosen Reihen von numidischen Zelten und einem großen Begräbnisplatz für jene, die von den Elefanten getötet worden waren. Von fünf verwegenen Männern, die auszogen, um die vierbeinigen Giganten zu fangen, kehrten meist nur zwei lebendig zurück. Dennoch wurde die Zahl der Freiwilligen, die beim Elefantenfang ihr Glück machen wollten, nicht geringer. Der Grund dafür war der hohe Lohn, den sie erhielten. Hamilkar sparte bei den Vorbereitungen für den großen Feldzug weder mit iberischem Silber noch mit Menschenleben.
Richad, der Hannibal und Masinissa freundlich begrüßte, sah aber nicht wie der Herrscher eines indischen Königreiches aus. Er trug noch immer seinen Turban und die verblichene Tunika und war der schlichte Elefantentreiber geblieben, als den Hannibal ihn einst kennengelernt hatte. Als er näher mit dem Inder sprach, wurde ihm klar, wie recht sein Vater mit der Behauptung hatte, daß dieser Mann soviel wert sei wie ein großes Heer. Und Greis hatte sich geirrt, als er meinte, es werde niemandem gelingen, einen afrikanischen Elefanten zu zähmen.
Richad berichtete, daß die afrikanischen Elefanten ebenso gelehrig seien wie die indischen, aber noch stärker und kampfeslustiger. Es war wirklich nicht mehr zweckmäßig, Elefanten aus dem fernen Indien zu holen.
Der Inder führte die Gäste persönlich durch sein Reich. Als erstes zeigte er ihnen einen Pferch, der so ähnlich aussah wie jene, in die man über Nacht die Schafherden treibt, nur mit dem Unterschied, daß er nicht aus Stangen und Pfählen bestand, sondern aus glatten Stämmen, die senkrecht in die Erde gerammt waren. Sie umschlossen einen glattgetrampelten Bezirk, wo die Elefanten umhergingen oder lagen. Es waren Elefantenbullen und Elefantenkühe, sogar Elefantenjunge, nicht größer als Pferde.
„Sind die schon gezähmt?"
„Nein." Richad schüttelte den Kopf. „Noch vor einer Woche liefen sie frei herum - dort hinter dem See."
Im Mittelpunkt eines anderen quadratischen Pferches stand ein seltsames Gerüst. Zwei lange Pfähle waren schräg in die Erde gerammt, so daß sie ein Dreieck bildeten. Zwischen den Pfählen stand ein Elefant. An der Spitze des Dreiecks hing ein Strick, an dem sich ein Mann zu dem Tier herunterließ. Als seine Füße den Rücken des Elefanten berührten, schwenkte dieser drohend den Rüssel, duckte sich und schüttelte den Mann ab, der sofort wieder am Strick emporkletterte und sich erneut auf den Rücken des Elefanten herabließ. Der Elefant schüttelte ihn wieder ab, und wieder kletterte der Mann in die Höhe.
Gespannt beobachtete Hannibal diesen Kampf zwischen Geduld und Verstocktheit. Schließlich gab der Elefant nach. Ihm verging offensichtlich die Lust, sich mit solchen läppischen Dingen zu befassen. Er schüttelte sachte den Kopf, als wollte er sagen: Was ihr da macht, ist natürlich dumm, aber wenn ihr es unbedingt wollt - meinetwegen.
„Und anschließend schickst du den Elefanten ins Heer?" fragte Hannibal.
Der Inder lächelte. „Nein, das Wichtigste kommt erst. Dieser Elefant ist noch ein Rekrut, aus dem ich erst einen Krieger, einen geschulten Kampfelefanten, machen muß. Er lernt jetzt die Ausgangsstellung vor dem Kampf, die einzelnen Bewegungen im Schlachtgetümmel, die Besonderheiten beim Kampf gegen Infanterie, Kavallerie und feindliche Elefanten sowie den Angriff auf das feindliche Heerlager."
Neben dem Dreieck stand eine Elefantenkuh mit ihrem Jungen. Offenbar sollte sie den Elefanten ablösen.
„Zähmt ihr die auch?" Masinissa zeigte auf das Jungtier.
„Aber nein!" Der Inder winkte verächtlich ab. „Die fangen wir bloß zum Spaß. Erst im Alter von zwanzig Jahren ist ein Elefant verwendbar, und am besten sind die vierzigjährigen. Übrigens kann man auch aus Jungtieren ausgezeichnete Kämpfer machen, wenn man genügend Zeit für ihre Dressur aufwendet. Sur, mein Leitelefant, wurde als Jungtier gefangen. Wir sind unzertrennliche Freunde; jetzt ist er zwanzig Jahre alt."
„Und wie alt ist der unter den Pfählen?" fragte Hannibal.
„Dreißig Jahre. Ein prächtiges Tier. Bestimmt wird er ein guter Kampfelefant."
„Gibt es auch Elefanten, die sich der Dressur nicht fügen wollen?"
„Ja, mit ihnen verfahren wir anders."
Der Inder führte Hannibal zu einem dritten Pferch. In seiner hinteren Ecke war ein Elefant mit dicken Seilen an die Pfähle gefesselt. Er versuchte mit aller Kraft sich zu befreien. Aber die Pfähle waren tief in die Erde gerammt, und je heftiger er an seinen Fesseln zerrte, um so tiefer schnitten sie in seinen Körper. Er brüllte so jammervoll, als wollte er die ganze Herde zu Hilfe rufen. Aber die anderen Elefanten blieben gleichgültig liegen und kümmerten sich nicht um den Hilferuf.
Offenbar haben die Tiere nicht viel Vernunft, da sie außerstande sind, ihrem Mitbruder zu Hilfe zu kommen, überlegte Hannibal. Demnach sind Elefanten leichter zu regieren als Söldner. Elefanten können keine Verschwörungen und Meutereien anzetteln.
Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, daß er Masinissa vergessen hatte, und um so mehr überraschte ihn der Ausbruch des jungen Numidiers. Masinissa stürzte zu dem Elefanten hin und durchschlug mit dem Schwert eines der Seile, die ihn gefesselt hielten.
„Ich hasse euch!" Er sah Hannibal mit funkelnden Augen an. „Ich hasse euch alle! Die Elefanten sind besser als ihr. Sie leben in Freiheit und tun niemandem etwas zuleide. Friedlich weiden sie in unseren Grassteppen. Ihr Karthager habt viel Silber, doch wenig Gewissen. Euch genügen die Söldner nicht - ihr wollt auch diese sanften Tiere in Mörder verwandeln."