Terry Brooks
Die Elfenkönigin von Shannara
Für Diane,
die vermißt wird
Umschlagillustration: Keith Parkinson
1
Feuer.
Es blakte in den Öllampen, die entfernt und einsam in den Fenstern und über den Eingängen zu den Wohnstätten ihres Volkes hingen. Es flackerte und zischte, während es an den Pechfackeln leckte, die die Straßenkreuzungen und Tore beleuchteten. Es schimmerte rotglühend zwischen den belaubten Zweigen der uralten Eiche und des Walnußbaumes hindurch, wo verglaste Laternen die Alleen säumten. Als Teile flackernden Lichtes wirkten die Flammen wie kleine Lebewesen, die die Nacht aufzuspüren und zu verschlingen drohten.
Wie auch uns, dachte sie.
Wie die Elfen.
Ihr Blick wanderte hoch, hinüber zu den Gebäuden und Mauern der Stadt, und dann dorthin, wo Killeshan Dampf ausstieß. Feuer.
Es glühte rötlich aus dem zerklüfteten Schlund des Vulkans heraus, die spiegelglatte Fläche seines flüssigen Kerns spiegelte sich in den Wolken des Vog – vulkanischer Asche –, der in düsteren Gruppen über den leeren Himmel zog. Killeshan ragte drohend darüber auf, riesig und unbändig, ein Phänomen der Natur, dem zu widerstehen keine Elfenmagie erhoffen konnte. Schon seit Wochen war das Poltern nun schon aus den Tiefen der Erde zu hören, unbefriedigt, entschlossen, Zeichen des Drucks, der immer größer wurde und schließlich Befreiung fordern würde. Unterdessen grub die Lava Höhlen und Tunnel durch die Risse und Spalten der Wälle, die sie umgaben, und floß in langen, windungsreichen Rinnsalen hinab in die Wasser des Ozeans. Der Dschungel und die Wesen, die darin lebten, blieben verbrannt zurück. Eines nicht mehr fernen Tages, das wußte sie, würden die Nebenabflüsse nicht mehr ausreichen, und Killeshan würde in einer Feuersbrunst ausbrechen, die sie alle zerstören würde. Wenn dann überhaupt noch jemand von ihnen übrig war. Sie stand am Rande der Gärten des Lebens, nahe der Stelle, wo der Ellcrys wuchs. Der uralte Baum strebte himmelwärts, als wolle er sich durch den Vog kämpfen und die saubere Luft einatmen, die darüber versiegelt lag. Seine silbernen Zweige schimmerten schwach im Licht der Laternen und Fackeln, und scharlachrote Blätter reflektierten das dunklere Glühen des Vulkans. Verstreute Funken tanzten in seltsamen Mustern zwischen den Bäumen hindurch, als wollten sie ein Bild formen. Sie beobachtete, wie die Bilder auftauchten und verblaßten, ein Spiegel ihrer Gedanken und der Traurigkeit, die sie zu überwältigen drohte.
Was soll ich tun? dachte sie. Welche Wahl bleibt mir?
Keine, wie sie wußte. Keine. Sie konnte nur warten. Sie war Ellenroh Elessedil, die Königin der Elfen, und alles, was sie tun konnte, war warten.
Sie umklammerte fest den Ruhkstab und schaute mit verzweifeltem Gesicht gen Himmel. Diese Nacht waren keine Sterne und kein Mond zu sehen. Seit Wochen war von beidem wenig zu sehen gewesen, nur der Vog war allgegenwärtig, dick und undurchdringlich, ein Leichentuch, das nur darauf wartete, sich auf sie zu senken, ihre Körper zu bedecken, sie alle zu umschließen und für immer einzuhüllen.
Sie stand wie erstarrt da, als ein heißer Windzug über sie hinwegblies und das edle Leinen ihrer Kleidung kräuselte. Sie war groß und langbeinig, und ihr Körper war kantig. Ihre Gesichtsknochen standen hervor und formten Züge, die man sofort wiedererkennen würde. Ihre Wangenknochen waren hochliegend, ihre Stirn breit und ihr Kiefer scharf geschnitten und glatt unter einem breiten, dünnen Mund. Ihre Haut war fest über ihr Gesicht gespannt, was ihr das Aussehen einer Skulptur verlieh. Flachsblondes Haar fiel in dichten, ungebändigten Locken auf ihre Schultern. Ihre Augen waren von einem seltsamen, stechenden Blau und schienen beständig Dinge zu sehen, die für andere nicht gleich erkennbar waren. Sie wirkte jung für ihre über fünfzig Jahre. Wenn sie lächelte, und das geschah oft, brachte sie auch die Gesichter anderer fast mühelos zum Lächeln.
Doch jetzt lächelte sie nicht. Es war spät, weit nach Mittenacht, und ihre Sorgen waren wie eine Kette, die sie gefangen hielt. Sie hatte nicht schlafen können und war in die Gärten gekommen, um spazierenzugehen, in die Nacht zu lauschen, allein zu sein mit ihren Gedanken und zu versuchen, ein winzig kleines Stück Frieden zu finden. Aber der Frieden entzog sich ihr immer wieder, und ihre Gedanken waren kleine Dämonen, die sie verspotteten und sie neckten. Die Nacht war eine große, hungrige, schwarze Wolke, die geduldig auf den Moment wartete, wo sie schließlich ihre schwachen Lebenslichter auslöschen würde. Feuer, erneut. Feuer, das Leben gab, und Feuer, das es wieder nahm. Das Bild drängte sich ihr heimtückisch immer wieder auf. Sie wandte sich abrupt um und begann durch die Gärten zu wandern. Cort folgte ihr, sie spürte seine schweigende, unsichtbare Präsenz. Wenn sie sich die Mühe machte, ihn zu erkennen, würde er verschwunden sein. Sie konnte ihn sich im Geiste vorstellen, den kleinen stämmigen Jungen mit seiner unglaublichen Schnelligkeit und Kraft. Er war Mitglied der Leibgarde, der Beschützer der Elfenherrscher, eine jener Waffen, die sie verteidigten, eines jener Leben, die zur Erhaltung ihrer eigenen geopfert worden waren. Cort war ihr Schatten, und wenn nicht Cort, dann Dal. Der eine oder der andere war immer da und beschützte sie. Während sie den Weg entlangging, glitten ihre Gedanken schnell dahin, einer nach dem anderen. Sie spürte die Unebenheiten des Bodens durch den dünnen Stoff ihrer Schuhe. Arborlon, die Stadt der Elfen, ihre Heimat, die vor mehr als hundert Jahren aus dem Westland fortgebracht worden war – hierher, an diesen...
Sie ließ den Gedanken in der Luft hängen. Ihr fehlten die Worte, ihn zu Ende zu bringen.
Elfenmagie, aus der Feenzeit wieder heraufbeschworen, schützte die Stadt, aber die Magie begann nachzulassen. Die ineinander verschmelzenden Wohlgerüche der Blumen des Gartens wurden dort, wo sie über die äußere Grenze des Keel hinaus drangen, von den beißenden Gerüchen der Killeshan-Gase überlagert. Nachtvögel sangen zart in den Bäumen und Sträuchern, aber selbst hier wurden ihre Gesänge von den gutturalen Klängen der dunklen Wesen überlagert, die hinter den Mauern der Stadt in den Dschungeln und Sümpfen lauerten. Die den Keel bedrängten und abwarteten.
Die Monster.
Der Pfad, dem sie folgte, endete am nördlichsten Rand der Gärten auf einem Vorgebirge, das über ihrem Heim aufragte. Die Palastfenster waren dunkel, denn alle schliefen. Alle außer ihr. Darunter lag die Stadt, Ansammlungen von Häusern und Geschäften, die sich unter den Schutz des Keel duckten wie ängstliche Tiere, die sich in ihre Höhlen kauern. Nichts bewegte sich, als ob die Angst jede Bewegung unmöglich machte, als ob man sich durch Bewegung verraten könnte. Sie schüttelte traurig den Kopf. Arborlon war eine Insel, die von Feinden umgeben war. Dahinter, im Osten, ragte Killeshan über der Stadt empor, ein großer zerklüfteter Berg, der während der Jahrhunderte bei jedem Ausbruch durch das Lavagestein neu geformt worden war, ein bis vor zwanzig Jahren untätiger, jetzt aber lebendiger und unruhiger Vulkan. Im Norden und im Süden lauerte dicht und undurchdringlich der Dschungel, der sich in einem Gewirr von Grün bis zu den Küsten des Meeres hin erstreckte. Westlich, unterhalb der Hügel, auf denen Arborlon ruhte, lag der Rowen und dahinter die Wand des Blackledge. Nichts davon gehörte den Elfen. Einst hatte ihnen die ganze Welt gehört, vor der Ankunft der Menschen. Einst hatte es keinen Ort gegeben, den sie nicht hatten besuchen können. Selbst zu Zeiten des Druiden Allanon, vor fast genau dreihundert Jahren, hatte das ganze Westland noch ihnen gehört. Jetzt waren sie auf diesen kleinen Raum beschränkt, von allen Seiten bedrängt, gefangen hinter der Mauer ihrer schwindenden Magie. Sie alle, alle, die übriggeblieben waren, wie in einer Falle gefangen.
Sie schaute hinaus in die Dunkelheit jenseits des Keel und stellte sich im Geiste vor, was dort wartete. Sie überdachte einen Augenblick lang die Ironie des Ganzen – die Elfen waren zu Opfern ihrer eigenen Magie geworden, zu Opfern ihrer eigenen klugen, in die Irre führenden Pläne und von Ängsten, die niemals hätten beachtet werden dürfen. Wie hatten sie so dumm sein können?