Sie schaute fort, einen Moment lang überwältigt von ihren Überlegungen. Sie sah wieder das Gesicht ihrer Mutter, wie sie es in ihrem Traum gesehen hatte – das Gesicht eines Mädchens von der Rasse der Menschen, nicht der Elfen. Der Teil von ihr, der zu den Elfen gehörte, diese andersartigen Züge, waren nicht sehr deutlich gewesen. Oder hatte sie sie einfach nicht erkannt? Was war mit ihrem Vater? Eigenartig, dachte sie. Er war bei ihren Überlegungen, was gewesen sein könnte, anscheinend niemals sehr wichtig gewesen, niemals sehr real, und sie wußte nicht, warum. Er hatte für sie kein Gesicht. Er war unsichtbar. Sie sah wieder Garth an. Er wartete geduldig. »Du wußtest nicht, daß die bemalten Steine Elfensteine waren?« fragte sie ein letztes Mal. »Du wußtest nichts darüber, was sie waren?«
Nichts.
Was, wenn sie sie weggeworfen hätte? fragte sie sich erschreckt. Was wäre dann aus den Plänen ihrer Eltern – wie auch immer sie aussahen – geworden? Aber sie kannte die Antwort auf diese Frage. Sie hätte die bemalten Steine niemals weggegeben, ihre einzige Verbindung zur Vergangenheit, die einzige Erinnerung an ihre Eltern, die sie hatte. Hatten sie sich darauf verlassen? Warum hatten sie ihr zuerst die Elfensteine gegeben? Um sie zu schützen? Vor was? Vor Schattenwesen? Vor Schlimmerem? Vor etwas, das noch nicht einmal existiert hatte, als sie geboren wurde?
»Warum, glaubst du, haben sie mir die Elfensteine gegeben?« fragte sie Garth vollkommen verwirrt.
Garth senkte einen Moment den Blick und schaute dann wieder auf. Sein großer Körper bewegte sich nervös. Er signalisierte.
Vielleicht, um dich auf der Suche nach den Elfen zu beschützen.
Wren sah ihn offen an. Sie hatte diese Möglichkeit noch nicht erwogen. Aber wie hatten ihre Eltern wissen können, daß sie die Elfen suchen würde? Oder hatten sie ganz einfach gewußt, daß sie sich eines Tages von allein aufmachen würde, ihr Erbe ausfindig zu machen, daß sie darauf bestehen würde, zu erfahren, woher sie kam und wer ihre Leute waren?
»Garth, ich verstehe nicht«, gestand sie ihm. »Was bedeutet das alles?«
Aber der große Mann schüttelte nur den Kopf und sah traurig vor sich hin.
Sie schauten weiter in die Nacht hinaus, der eine dösend, während der andere wach blieb, bis die Dämmerung schließlich den östlichen Himmel erhellte. Garth schlief dann noch bis zum Mittag, denn seine Kräfte waren erschöpft. Wren saß da und dachte darüber nach, was sich aus ihrer Entdeckung ergab. Es waren die Elfensteine von Shea Ohmsford, sagte sie sich. Sie hatte deren Beschreibung oft genug gehört und Sagen über ihre Geschichte. Sie gehörten dem, dem sie gegeben wurden, wer auch immer es war, und sie waren der Ohmsfordfamilie gegeben – und dann vermutlich wieder verloren – worden. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte man sie ihnen einfach zu einem bestimmten Zeitpunkt fortgenommen. Das war möglich. Es hatte nach Brin und Jair viele Ohmsfords gegeben und eine Zeitspanne von dreihundert Jahren, in denen die Magie verlorengegangen sein konnte – sogar eine so persönliche und mächtige Magie wie die der Elfensteine. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie niemand hatte benutzen können, erinnerte sie sich. Nur jene, die genügend Elfenblut in sich hatten, konnten die Magie ungestraft beschwören. Will Ohmsford war auf diese Weise vernichtet worden. Dadurch, daß er die Steine gebrauchte, war er gezwungen worden, einen Teil ihrer Magie in sich aufzunehmen. Als seine Kinder geboren wurden, Brin und Jair, hatte sich die Magie in das Wunschlied verwandelt. Also hatte vielleicht einer der Ohmsfords beschlossen, die Elfensteine zu jenen zurückzubringen, die sie ohne Gefahr gebrauchen konnten – zu den Elfen. Hatten sie dadurch den Weg zu ihren Eltern gefunden?
Die Fragen blieben, überwältigend, beständig und ohne Antwort. Was hatte Cogline zu ihr gesagt, als er sie im Tirfing gefunden und dazu überredet hatte, mit ihm zum Hadeshorn zu kommen, um Allanon zu treffen? Es ist nicht annähernd so wichtig zu wissen, was du bist, als zu wissen, was du sein könntest. Sie begann zu verstehen, daß dies möglicherweise auf eine Art wahr werden konnte, die sie sich niemals hätte vorstellen können. Garth stand mittags auf und aß den Gemüseeintopf und das frische Brot, das sie bereitgestellt hatte. Er war steif und wund, und seine Kräfte waren noch nicht wiederhergestellt. Dennoch hielt er eine Erkundungstour in dieser Gegend für notwendig, um sicherzugehen, daß kein weiteres Wolfswesen in der Nähe war. Wren hatte diese Möglichkeit noch nicht erwogen. Sie beide hatten ihren Angreifer als Schattenwesen erkannt – als ein Wesen, das einst ein Mensch gewesen war und dann zum Teil ein Tier geworden war, ein Wesen, das verfolgen und jagen konnte, das sich verbergen und heranpirschen konnte und das genauso gut denken konnte wie sie und ohne Gewissensbisse tötete. Kein Wunder, daß es ihnen so problemlos gefolgt war. Sie hatte angenommen, es sei allein gekommen. Das war eine Annahme, die für sie gefährlich werden konnte. Also erklärte sie, daß sie gehen würde. Es ging ihr im Moment besser als ihm, und sie hatte die Elfensteine. Sie würde beschützt werden.
Sie sagte ihm nicht, wie sehr die Elfenmagie sie erschreckte und wie schwer es ihr fallen würde, sie erneut anzurufen. Während sie die Gegend südlich und östlich nach Fußspuren, Zeichen oder außergewöhnlichen Merkmalen absuchte, wobei sie sich vor allem auf ihren Instinkt verließ, der sie vor jedweder Gefahr warnen würde, dachte sie darüber nach, was es bedeutete, solche Magie zu besitzen. Sie erinnerte sich daran, wie Par sie wegen ihrer Träume geneckt und erklärt hatte, sie habe sicher dasselbe Elfenblut wie er und vielleicht einen Teil der Magie. Sie hatte gelacht. Sie habe nur ihre bemalten Steine, hatte sie gesagt. Und ihr fiel wieder ein, wie die Addershag ihre Brust berührt hatte, wo die Elfensteine in ihrem Lederbeutel hingen, und wie sie unerwartet »Magie!« geschrien hatte. Damals hatte sie nicht einmal an die bemalten Steine gedacht. Ihr ganzes Leben lang hatte sie das Ohmsfordvermächtnis gekannt und die Magie, die zu ihnen als den Erben des Elfenhauses von Shannara gehörte. Doch sie hatte niemals daran gedacht, selbst von der Magie Gebrauch machen zu können. Sie hatte es sich nicht einmal gewünscht. Nun gehörte sie ihr, wie auch die Elfensteine ihr gehörten, und was sollte sie dagegen tun? Sie wollte die Verantwortung nicht, die die Steine oder ihre Magie ihr antrugen. Sie wollte das Vermächtnis nicht. Es war ein Mühlstein, der sie hinabziehen würde. Sie war eine Fahrende, frei geboren und erzogen, und das war es, was sie kannte und was für sie ein angenehmes Leben ausmachte – nichts von all dem anderen. Sie hatte ihr Elfenaussehen akzeptiert, ohne danach zu fragen, was es bedeuten könnte. Es war ein Teil von ihr, aber ein geringerer Teil, der absolut nicht zu dem Teil in ihr gehörte, der die Fahrende ausmachte. Sie fühlte sich, als sei sie bei der Entdeckung der Elfensteine von innen nach außen gekehrt worden, als habe ihr die Magie, als sie in ihr Leben getreten war, ihre Lebenskraft genommen und sie verändert. Sie mochte das Gefühl nicht. Sie war nicht begierig darauf, in jemand anderen verwandelt zu werden. Sie grübelte den ganzen Tag lang über ihr Unbehagen nach und war noch zu keinem Ergebnis gekommen, als sie zum Lager zurückkehrte. Das Signalfeuer war ein deutlich sichtbares Zeichen, und sie folgte seinem Glühen, bis sie dort ankam, wo Garth wartete. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht – sie konnte es in seinen Augen sehen. Aber er sagte nichts, reichte ihr Essen und ein Getränk und lehnte sich dann zurück, um sie schweigend beim Essen zu beobachten. Sie erzählte ihm, sie habe keine Spuren anderer Schattenwesen entdeckt. Sie erzählte ihm nicht, daß sie begann, ganz anders über die ganze Sache zu denken. Sie hatte sich schon zuvor gefragt, ganz am Anfang einmal, als sie sich gerade erst entschlossen hatte, etwas über ihre Herkunft herauszufinden, was wohl geschehen würde, wenn ihr nicht gefiel, was sie entdeckte. Sie hatte diese Möglichkeit ausgeschlossen. Doch jetzt befürchtete sie, einen sehr großen Fehler gemacht zu haben. Auch die zweite Nacht verging ohne Zwischenfälle. Sie hielten das Signalfeuer beständig am Brennen, indem sie neues Holz auflegten, wenn das alte verglüht war, und warteten geduldig. Ein weiterer Tag begann und endete, und noch immer erschien niemand. Sie suchten den Himmel und das Land von Horizont zu Horizont ab, aber es war kein Zeichen von irgend jemandem zu entdecken. Bei Einbruch der Nacht waren sie beide gereizt. Garths oberflächliche Wunden waren bereits geheilt, und die tieferen begannen sich zu schließen. Er schlich um das Lager herum wie ein gefangenes Tier und führte wiederholt nutzlose Tätigkeiten aus, um nicht einfach dasitzen zu müssen. Wren blieb sitzen, um nicht herumschleichen zu müssen. Sie schliefen, so oft es ging, ruhten sich aus, weil es notwendig war und weil die Zeit verging. Wren stellte fest, daß sie an der Addershag zu zweifeln, die Worte der alten Frau in Frage zu stellen begann. Wie lange war die Addershag schon von jenen Männern gefangengehalten worden, angekettet und eingesperrt in jenem Keller? Vielleicht war sie verwirrt. Aber sie hatte nicht schwach oder verwirrt geklungen. Sie hatte gefährlich geklungen. Und was war mit dem Schattenwesen, das ihnen durch das ganze Westland gefolgt war? All die Wochen hatte es sich verborgen gehalten und war ihnen nur in einiger Entfernung gefolgt. Es hatte sich erst gezeigt, nachdem sie das Signalfeuer entfacht hatten. Da war es hervorgekommen, um sie zu vernichten. War es nicht vernünftig, anzunehmen, daß sein Erscheinen durch das hervorgebracht worden war, was es sie hatte tun sehen, daß es das Signalfeuer als Bedrohung angesehen hatte, die beseitigt werden mußte? Warum sonst hatte es ausgerechnet in diesem Moment angegriffen?