Der Zug ging weiter. Einmal bewegte sich etwas Riesiges in den abgelegenen Schatten neben ihnen, und Stresa wälzte sich ihm mit aufgestellten Stacheln entgegen. Aber nichts zeigte sich, und sie gingen kurz darauf weiter. Das Geräusch von Wasser, das auf Felsen aufprallte, erklang vor ihnen, das Steigen und Fallen des Meeres. Wren bemerkte, daß sie lächelte. Den Ruhkstab hielt sie fest an ihre Brust gepreßt. Es gab noch immer eine Chance für sie, dachte sie erschöpft. Es bestand noch immer Hoffnung, daß sie entkommen konnten.
Als dann schließlich das Tageslicht hinter ihnen verblaßte und der Sonnenuntergang vor ihnen in Silber- und Rottönen erstrahlte, traten sie aus den Bäumen heraus und fanden sich auf einem hohen Felsen wieder, von dem aus sie über die weiten Wasser der Blauen Spalte sehen konnten. Rauch und Asche bewölkten die Luft vor ihnen, aber hinter ihrem Schirm flammte der Horizont von Farben.
Die Freunde taumelten vorwärts und blieben dann stehen. Der Fels fiel zu einer zerklüfteten Küstenlinie hin steil ab. Es gab keine Strande und keine Spur von Tiger Ty.
Wren lehnte sich schwer auf den Stab und suchte den Himmel ab. Er erstreckte sich weit und leer vor ihnen.
»Tiger Ty!« flüsterte sie verzweifelt.
Triss ließ sie los, trat vor und suchte den Fels ab. »Dort unten«, signalisierte er kurz darauf und deutete nach Norden. »Dort ist ein Strand, auf den wir gelangen können.«
Aber Stresa schüttelte bereits seinen grauen Kopf. »Sssttt! Wir müßten durch die Wälder zurückgehen, zurück durch den Rauch und die Wesen, die er verbirgt. Keine kluge Idee bei der bevorstehenden Dunkelheit. Phfffft!«
Wren sah hilflos zu, wie die Sonne am Rande des Meeres herabsank und zu verschwinden begann. Innerhalb von Minuten würde es dunkel sein. Sie dachte daran, daß sie so weit gekommen waren, und flüsterte: »Nein.« Aber so leise, daß nur sie es hören konnte.
Sie legte den Stab ab und ließ die Elfensteine in ihre Hand gleiten. Sie hielt sie vor sich und ließ die weiße Magie von einem Ende zum anderen über den Himmel schießen. Es war ein Aufflackern der Helligkeit vor dem grauen Zwielicht. Das Licht schimmerte wie Feuer und verschwand. Sie standen da und schauten ihm nach und beobachteten, wie die Dunkelheit sich näherte. Sie beobachteten, wie die Sonne den Himmel mit Farben bemalte, während sie außer Sicht sank.
Hinter ihnen begannen sich die Jäger zu sammeln, die Dämonen, die von den Höhen herabgekommen waren, und die schwarzen Wesen, die sie verfolgt hatten oder von der Magie angezogen wurden. Ihre Schatten drängten sich an den Rand des Zwielichts, sie knurrten und fauchten und kamen ständig näher. Wren und ihre Begleiter waren auf dem Fels gefangen und drängten sich auf einer Klippe zusammen, die zum Meer hin steil abfiel. Wren spürte das Rasseln ihrer Knochen, ihres Atems, und ihre nachlassende Kraft. Sie hatte zuviel erwartet, als sie angenommen hatte, Tiger Ty würde nach all dieser Zeit für sie da sein Sie hatte zuviel erhofft. Und doch weigerte sie sich, die einzige Hoffnung aufzugeben, die ihnen geblieben war. Sie würde einmal mehr die Magie benutzen, wenn es notwendig war. Einmal mehr, maßvoll. Denn es war in jedem Fall nicht mehr genug übrig, um sie eine weitere Nacht am Leben zu erhalten. Es war nicht mehr genug Kraft in ihr, um sie zu benutzen, aber es war in niemandem von ihnen genug Kraft, als daß es wichtig wäre.
Triss trat den Schatten in den Bäumen entgegen. Er stand da, hager und hart, mit seinem gebrochenen Arm, der steif herabhing, den Schwertarm gebeugt und bereit. »Haltet euch hinter mir«, befahl er.
Die Sekunden vergingen schnell. Die Farben am westlichen Himmel verblaßten zu Grau. Zwielicht vertiefte sich zu einem blassen Ascheschatten.
»Dort!« warnte Stresa.
Etwas schwang sich aus der Dunkelheit heran, eine kompakte Gestalt stieß auf Triss herunter und warf ihn zu Boden. Eine weitere rauschte hinter ihr heran, und Stresa überschüttete sie mit Stacheln. Wren schwang die Elfensteine hoch, sandte die Magie vor und verbrannte die nächststehenden Wesen. Sie schrien und zogen sich hastig zurück. Triss lag bewußtlos auf der Erde.
Wren fiel erschöpft auf die Knie.
»Sssttt. Steh auf!« grollte Stresa verzweifelt.
Eine Handvoll mißgestalteter Figuren löste sich erneut aus der Dunkelheit und drängte auf sie zu.
»Steh auf!«
Auf einmal zerriß ein Schrei die nahe Stille, ein Laut wie der Aufschrei menschlichen Lebens, und ein riesiger Schatten strich über den Felsen. Klauen streiften die Umrisse der Bäume und zerstreuten die Angreifer in die Dunkelheit. Wren schaute ungläubig hinauf. Sprachlos. Hatte sie gesehen... ? Der Schatten kam zurück, schwarze Schwingen zuckten messergleich über den Himmel, und ein weiterer Schrei brach hervor.
»Spirit!« schrie Wren, als sie ihn erkannte.
Der Rock kam wieder zurück und sank auf den Rand des Felsens, wo er sich mit wildem Flügelschlag niederließ. Eine kleine, drahtige Gestalt sprang herab, wild brüllend und schreiend.
»Ho, hier entlang, schnell jetzt! Ihr Schreck wird nicht lange anhalten!«
Tiger Ty!
Und als Wren Triss auf die Füße zog und vorwärts taumelte, auf den kleinen Mann zu, fand sie Tiger Ty so vor, wie sie ihn all die Wochen in Erinnerung gehabt hatte, runzlig und unter seiner braunen Haut lächelnd, eine Vogelscheuche aus Knochen und Leder, mit offenen rauhen Händen und mit flinken, hellen Augen. Er sah sie an und ihre Begleiter und den Ruhkstab, den sie trug, und er lachte.
»Wren Elessedil«, begrüßte er sie. »Ihr seid so gut wie Euer Wort, Mädchen! Aus dem Tod zurückgekommen, um mich zu treffen, zurückgekommen, um mir ins Gesicht zu spucken, um mir zu beweisen, daß Ihr es trotz allem schaffen konntet! Schatten, Ihr müßt hart wie Eisen sein!«
Sie war zu glücklich, ihn zu sehen, als daß sie widersprochen hätte. Er drängte sie, schnell auf Spirit hinaufzusteigen – aber erst nachdem er Stresa einen scharfen Blick zugeworfen und dem Stachelkater eine gezielte Warnung hatte zukommen lassen, daß er seine Stacheln am besten bei sich behalten sollte. Während er etwas über Wrens Wahl ihrer Reisegefährten murmelte, schlang er der Stachelkatze einen Lederüberwurf um und hob ihn hoch, Obwohl Stresa ruhig und nachgiebig blieb, schossen seine Blicke doch ärgerlich umher. Wren band Faun auf ihren Rücken, bestieg Spirit, zog den halb bewußtlosen Triss hinauf und setzte ihn vor sich, wo sie ihn an seinem Platz festhalten konnte. Da sie die Hände voll hatte, stieß sie den Ruhkstab neben ihre Beine in Spirits Harnisch. Sie arbeiteten geschwind, Tiger Ty und sie, angetrieben durch das Knurren und Fauchen, das sich aus der Dunkelheit der Bäume erhob, getrieben von der Angst vor den Wesen, die sich dort verborgen hielten. Zweimal schossen schwarze Gestalten aus den Schatten, als wollten sie angreifen, aber jedes Mal schickte der ärgerliche Schrei von Spirit sie wieder davon.
Es schien, als würden sie ewig brauchen, aber schließlich waren sie bereit. Mit einem schnellen letzten Blick auf die Riemen des Harnischs sprang Tiger Ty auf den Rock.
»Hoch jetzt, alter Vogel«, schrie er drängend.
Mit einem letzten Schrei breitete Spirit seine großen Schwingen aus und erhob sich in die Luft. Eine Handvoll Dämonen brach aus der Deckung hervor. Sie rasten in dem letzten verzweifelten Versuch heran, sie zu fangen, und warfen sich auf den Fels. Einige erwischten noch Federn des Rock und zogen den großen Vogel hinab. Aber Spirit schüttelte sich, wand sich und schlug wild mit seinen Klauen um sich, und die Angreifer fielen in die Dunkelheit zurück. Als der Rock über die Blaue Spalte dahinglitt und aufzusteigen begann, schaute Wren ein letztes Mal zurück. Morrowindl war ein glühender Schmelztiegel vor der Nacht, ganz Nebel und Dampf und Asche, und Killeshans Krater spie Ströme geschmolzenen Felsgesteins aus. Flüsse aus Feuer, die zum Meer strömten.
Sie schloß die Augen und schaute nicht mehr zurück.